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Ausgabe:

1972

Kategorie:

Judaistik

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Neuerscheinungen

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auf die Theologie des Lukas wehrt. Einer kritischen Überprüfung
bedarf dagegen seine Behauptung einer Unvereinbarkeit
von Gesetz und Geschichte. Dazu wäre eine eingehende
Untersuchung des Gesetzesverständnisses des Spätjudentums
unter Berücksichtigung der verschiedenen Strömungen
und Gruppierungen erforderlich; denn auf diesem
Gebiet herrscht sehr viel Unklarheit. Sein Nachweis, daß
Apokalyptik und Gesetzesfrömmigkeit keinen Gegensatzbilden
, ist überzeugend. Unverständlich erscheint dagegen die
Beibehaltung des Ausdrucks „Spätjudentum", zumal sich N.
voll und ganz der Problematik dieses „oft mißverstandenen
und auch sehr anfechtbaren Ausdrucks" (S. 21) bewußt ist.
In einer Zeit, die durch das Bemühen um Verständigung
zwischen Christen und Juden gekennzeichnet sein sollte,
müssen in der Bibel Wissenschaft Begriffe vermieden werden,
die von dem jüdischen Partner als diffamierend empfunden
werden.

Berlin - Günther Baumbach

Flesseman — van Leer, Ellen: Franz Rosenzweig over de ver-
houding van jodcndom en christendom (NedThT 25, 1971
S. 154-170).

Golterman, W. F.: Proselitisme (NedThT 25, 1971 S. 171-
185).

NEUES TESTAMENT

Jeremias, Joachim : Neuteslamentliche Theologie. I: Die Verkündigung
Jesu. Gütersloh: Gütersloher Verlagshatis G.
Mohn [1971]. 314 S. gr. 8°. Lw. DM 34,—.

Vergleicht man die vorliegende Darstellung der Verkündigung
Jesu mit ähnlichen Darstellungen anderer Autoren aus
jüngster Zeit, so fällt alsbald die Fülle des Materials auf, das
J. zum Thema vorzutragen vermag. Hier ist bei aller Modifikation
die Kontinuität mit einer älteren Forschungstradition
gewahrt, die auch durch die radikal-formkritische Forschung
nicht zerbrochen werden konnte. Die Breite der Thema-Behandlung
gründet in einem heute selten gewordenen starken
Zutrauen in die Zuverlässigkeit der Überlieferung. J. rechtfertigt
dieses Zutrauen in einem ersten Kapitel („Zur Frage
nach der Zuverlässigkeit der Überlieferung der Worte Jesu")
durch den Aufweis vielfach vernachlässigter sprachlich-stili-
stischer Tatbestände, die es neben der üblichen religionsvergleichenden
Methode (Unähnlichkeitskritcrium) ermöglichen,
die vorösterliche Überlieferung gerade auch hinsichtlich der
positiven Zusammenhänge zwischen Jesus und dem Judentum
in den Griff zu bekommen. J. geht aus von dem aramäischen
Hintergrund, der sich in den Worten Jesu abzeichnet.
Er läßt folgende von Jesus bevorzugte Redeweisen erkennen,
die in seiner jüdischen Umwelt nur spärlich belegt sind: das
Passivum divinum, der antithetische Parallelismus, verschiedene
Formen des Rhythmus sowie Alliteration, Assonanz und
Paronomasie. Andere Kennzeichen der Diktion Jesu besitzen
in der zeitgenössischen Literatur überhaupt keine Analogie
und dürfen daher als „Kennzeichen der ipsissima vox Jesu"
charakterisiert werden: die Gleichnisse Jesu, die Rätselsprüche
, die Königsherrschaft Gottes, Amen, 'Abba. Freilich
bleibt von Fall zu Fall zu prüfen, ob nur eine ipsissima vox Jesu
oder ein ipsissimum verbum vorliegt. Insgesamt hält jedoch
J. den optimistischen Grundsatz für gerechtfertigt:
„Bei der synoptischen Überlieferung der Worte Jesu muß
nicht die Echtheit, sondern die Unechtheit bewiesen werden"
(S. 45). Als kritische Anfrage bleibt, ob nicht dem hellenistischen
Judentum, genauer: dem hellenistischen Judenchristentum
eine größere Rolle im Traditionsprozeß zugebilligt
werden muß als bei J. auch nur andeutungsweise sichtbar
wird? Die Gefahr, an sich berechtigte sprachlich-stilistische

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Echthcilskriterien zu überstrapazieren, will jedenfalls gesehen
sein. Das gilt auch dann, wenn man sich mit J. entschließen
sollte, die Existenz der Logienquelle Q in Zweifel zu ziehen
.

Eng verbunden mit dem starken Zutrauen in die Zuverlässigkeit
der Überlieferung ist ein betont historisch-biographisches
Interesse. J. schickt der eigentlichen Darstellung der
Verkündigung Jesu ein weiteres Kapitel voraus, das sich
gleichfalls einem heute selten behandelten Thema zuwendet,
nämlich der „Sendung Jesu", also dem, was „historisch"dem
öffentlichen Auftreten Jesu vorausgegangen sein muß. Die
Klärung der Beziehung Täufer-Jesus führt zu dem Ergebnis,
daß grundlegende Unterschiede zwischen beiden Männern es
verbieten, in der Wirksamkeit des Täufers den entscheidenden
Anstoß für Jesu Auftreten zu erblicken. Dieser liegt vielmehr
in der Berufung, die Jesus erlebte, als er sich der Johannes
-Taufe unterzog. Ihr zentraler Inhalt ist die Geistmitteilung
und eine Proklamation im Anschluß an Jes 42,1, der-
zufolge sich Jesus seit seiner Taufe als der von Jesaja verheißene
Gottesknecht wußte. Sachlich ist mit der Berufung
„die Übergabe der Offenbarung" verbunden, wie sie Jesus
selbst (Mt 11,27par.) beschrieben hat. Den Inhalt der Offenbarung
umschreibt aufs kürzeste die Gottesanrede 'Abba, die
Jesus „stets" in seinen Gebeten verwendet hat. Endlich erlaubt
der vorösterliche Kern der Versuchungsgeschichte die
Annahme, daß Jesus durch die Abweisung der Versuchung
des politischen Messianismus ein ausdrückliches Ja zu seiner
Sendung gesprochen hat. Das kleine Gleichnis vom Zweikampf
Mk 3,27/Lk ll,21f spielt unmittelbar darauf an.
Auch hier bleiben Fragen, von denen nur eine genannt sei:
wird in der Versuchungsgeschichte wirklich primär der politische
Messianismus abgewiesen oder nicht vielmehr die hellenistische
Theios-aner-Konzeption ?

Die Kapitel III bis V stellen die Verkündigung Jesu dar.
Hier begegnet dem informierten Leser eine Sicht der Dinge,
die ihm sowohl im Grundsätzlichen wie in zahlreichen Details
schon aus anderen Publikationen des Autors geläufig ist. Rez.
darf sich daher kurz fassen. Kapitel III handelt vom „Anbruch
der Heilszeit" als dem zentralen Thema der Botschaft
Jesu. Einzelne Aspekte dieses Themas sind: die Wiederkehr
des erloschenen Geistes, die Überwindung der Satansherrschaft
, die anbrechende Königsherrschaft Gottes als anbrechende
Weltvollendung, die Frohbotschaft für die Armen.
Jeder Aspekt zeigt: „Jesu Verkündigung vom Anbruch der
Heilszeit ist ohne Analogie" (S. 110). — Kapitel IV erläutert
Inhalt und Bedeutung der „Gnadenfrist", die angesichts der
eschatologischen Katastrophe noch bleibt. Das Problem der
unerfüllten Naherwartung wird durch den Hinweis gelöst,
daß Gott nach Jesu Überzeugung seinen eigenen heiligen
Willen aus Barmherzigkeit aufzuheben vermag. Charakteristisch
für die Gnadenfrist sind die Weherufe und die Umkehr
aus Freude als Forderung der Stunde. — Kapitel V beschreibt
„das neue Gottesvolk", das durch den Glauben als Antwort
auf den Anruf Jesu entsteht und von dessen Sammlung Jesus
immer wieder unter den verschiedensten Bildern spricht.
Seine Kennzeichen sind einerseits ein neues Gottesverhältnis
, das sich im Wissen um die Geborgenheit beim Vater und
in einem neuen Beten äußert, andererseits ein neues Verhältnis
zu den Mitmenschen, in dem sich gelebte Jüngerschaft
manifestiert. Zu dem Gottesvolk gehören auch seine Boten,
nämlich der Zwölferkreis, dessen Überlieferung vorösterlich
ist (Judas!). Für die bevorstehende eschatologische Notzeit
hat Jesus offenbar ein mit seiner Passion einsetzendes
Kollektivleiden der Jünger erwartet. Am Ende aber stehen
die eschatologische Völkerwallfahrt zum Gottesberg und
Gottes ewiges Königtum.

Kapitel VI behandelt „das Hoheitsbewußtsein Jesu", das
sachlich als das Bewußtsein, der eschatologische Heilbringer
zu sein, beschrieben werden muß. Wesentlich dafür sind nicht
traditionelle Titel, sondern ein durch die Worte Jesu sich
durchziehendes emphatisches Ego, das konkret Vollmacht
beansprucht und ohne das es nicht zur Kreuzigung gekom-

Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 2