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Ausgabe:

1972

Spalte:

95-104

Autor/Hrsg.:

Junghans, Helmar

Titel/Untertitel:

Freiheit und Ordnung bei Luther während der Wittenberger Bewegung und der Visitationen 1972

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 2

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den hesten halten. Lernt er unter besonderen Umständen
eine andere christliche Gemeinschaft stärker schätzen, liegt
eine Konversion nahe. Proselythenmacherei ist ein Unding.

4. Eine gegenseitige Verketzerung der verschiedenen
Kirchengemeinschaften ist nicht möglich.

5. Die Verschiedenheit der Kirchengemeinschaften hat
wichtige Aufgaben:

a) Sie bringt die Fülle der Gaben Christi genauso zum Ausdruck
wie die Schöpfung im engeren Sinne in ihrer Mannigfaltigkeit
.

b) Sie übt in der Liebe.

c) Sie lenkt den Blick von unwesentlichen Besonderheiten
auf das Eigentliche.

d) Sie schafft Korrektiva, um Irrtum und Sünde — und
damit Menschenmeinung — immer wieder zu brandmarken.

e) Sie weist auf die Vollendung der einen heiligen Kirche in
der neuen Schöpfung Gottes hin.

1 Vgl. hierzu Wolfgang Höhne, Luthers Anschauungen üher die Kontinuität
der Kirche. Berlin, Hamburg 1963. Bes. S. 70 t.
• WA 6, 287, 8f. * WA 30 I, 190,4ff.

' Vgl. Holsten Fagerberg, Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften
von 1529 bis 1537. Göttingen 1965, S. 267.

• Ernst Käsemann, Begründet der neutestamentlichc Kanon die
Einheit der Kirche ? Exegetische Versuche und Besinnungen [. Güttingen
1960, S. 221.

• WA 6, 295,7ff. 7 WA 30 I, 189,lff. ' WA 6 293 3ff

• WA 30 1, 190,lOf. " WA 11, 408,16«.

11 Rudolf Hermann, Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und
der Reformation. Göttingen 1960, S. 350.

" WA 11, 411,13». " WA 11, 408,30-409,2. 14 WA 11 408 22ff.

» WA 11, 408,8«. '• WA 6, 301,3«. " WA 50, 630,22 f und 631,7f.

" WA 50, 631,27«. » WA 10 II, 37,28-38,1. «> WA < 365 16«

« WA 4, 169,30f. WA 15, 32,6«. " WA 4, 169,31f.

" Das ist ein Mensch an der untersten Grenze der Selbständigkeit.
(Vgl. WA 51, 524, Anm. 6.)

» WA 51, 507,31«. - WA 18, 652,23. " Vgl. Anm. 8 in Sp. 91

** Man sollte bei Luther besser nicht von der „unsichtbaren" Kirche
sprechen, sondern von der „verborgenen".
WA DB 7, 421,1«.

" Kurt Dietrich Schmidt, Luthers Ansatz zur Neuordnung der Gemeinden
im Jahre 1523. In: Luther, Mitteilungen der Luther-Gcsell-
8cha«29, 1958, S. 16; vgl. WA 6, 130 und 297r.

■ Vgl. Kurt Dietrich Schmidt, a.a.O. S. 14ff.

" WA 19, 75,201. WA 6, 287,24«. « WA 6, 309,8 ff.

" WA 9, 489,25. (Luther spricht auch von denen, „die in rechtem
glauben, hoffnung und liebe leben" (WA 6, 293,2f) u. a. Auf die Vielfalt
der Bezeichnungen weist Kurt Dietrich Schmidt hin, a.a.O. S. 15f.)

•• WA 51, 477,19-478,19. " WA 51, 521,27-522,17. WA 51,
522,27-523,24.

Regin Prenter, Die Grundfunktion der Kirche nach lutherischer
Tradition. In: Luther, Mitteilungen der Luther-Gesellschaft 33, 1962,
S. 58 f.

" WA 50, 629,28«. « WA 51, 536,10«. Vgl. Anm. 2 in Sp. 89
» WA 6, 287,9f. " Vgl. Anm. 12 in Sp. 91 ** WA 30 III, 561,12ff.
» WA 30 III, 564,35—565,4.

Freiheit und Ordnung bei Luther während der Wittenberger Bewegung

und der Visitationen

Von Helniar Junghans, Leipzig
Franz Lau zum 65. Geburtstag

Die sog. Wittenberger Bewegung hat in diesem Jahr ihr
450jähriges Jubiläum. Das ist Anlaß genug, sich ihr zuzuwenden
, zumal eine abschließende Monographie über sie
noch aussteht. Vor dem ersten Weltkrieg legten zwar Nikolaus
Müller und Hermann Barge durch ihre Quellenpublikationen
dafür die Grundsteine, ohne daß aber jemand das Gebäude
aufführte. In dem vorliegenden Beitrag soll es um die
Frage gehen, ob Luther seine gegenüber der Wittenberger
Bewegung vorgebrachten Anschauungen beibehalten hat.

Die Beichsacht, die 1521 in Worms über Luther verhängt
winde, sollte die reformatorische Bewegung zum Stillstand
bringen. Dieses Ziel wurde jedoch nicht erreicht, sondern die
Reformation breitete sich rasch aus und nahm sogar noch
radikalere Züge an. So wurde in Wittenberg — zunächst vor
allem unter der Führung von Luthers Ordensbruder Gabriel
Zwilling — die bisherige kirchliche Ordnung verändert: Die
Messe wurde umgestaltet. Zwilling trug keine Meßgewänder
mehr, sondern behielt das schwarze Gewand der Studenten
an. An die Stelle der lateinischen Sprache in der Messe trat
die deutsche. Das Abendmahl wurde in beiderlei Gestalt gereicht
— nachweislich schon am 29. September 1521 Me-
lanchthon und seinen Schülern in der Pfarrkirche — und den
Kommunikanten sowohl die Hostie als auch der Kelch in ihre
Hände gegeben. Priester ließen ihre Tonsur zuwachsen und
heirateten, ebenso handelten Mönche, die ihr Kloster verließen
und ihre Kutte ablegten. Die Zahl der Messen wurde verringert
. Es wurden aber nicht nur neue Gewohnheiten eingeführt
, sondern zum Teil auch das Durchführen der alten
verhindert. Am 5. und 6. Oktober trieben Studenten mit
einem Antoniter, der Opfer einsammeln wollte, ihren Spott.
Und am 3. Dezember hinderten Studenten und Wittenberger
Bürger einen Priester mit Gewalt daran, die Messe zu lesen.
Wie stellte sich nun Luther zu dieser Entwicklung?

Zuerst muß festgehalten werden, daß Luther diese Entwicklung
selbst ausgelöst hatte. Genannt sei nur „Ein Sermon
von dem Neuen Testament, das ist von der heiligen Messe",

den Luther am 3. August 1520 an einen Ordensbruder in
Magdeburg sandte. In dieser Schrift überwog zwar die positive
Darstellung einer rechten Messe, ohne daß aber die Kritik
an der bestehenden Messe ausbleiben konnte. Luther
stellte die Einsetzung des Abendmahls durch Christus in den
Mittelpunkt der Messe und verfocht den Grundsatz: „Je
näher unsere Messe der ersten Messe Christi kommt, um so
besser ist sie ohne Zweifel, und je entfernter sie davon ist,
um so gefährlicher ist sie" (WA 6, 355, 3f.). Darum konnten
für ihn das Singen, Orgeln, Anlegen von liturgischen Gewändern
, Schmücken und Verhalten nur ein von Menschen erdachter
Zusatz sein, der den Worten Christi entsprechend
untergeordnet werden mußte; denn als Christus dieses Sakrament
einsetzte, gab es keine Tonsur, keine Kasel, kein Singen
und kein Prangen, sondern nur Danksagung und den Gebrauch
des Sakramentes (WA 6, 354, 26-28; 367, 23-30;
354, 28—31). Da Christus das Abendmahl in beiderlei Gestalt
ausgeteilt hatte, konnte für Luther das Austeilen unter einer
Gestalt nur ein Kelchentzug durch das tyrannische Herrschen
des Papstes sein (WA 6, 374, 20—33). Die Einsetzungsworte
erhielten für die Messe zentrale Bedeutung. Daher forderte
Luther, daß sie laut und deutsch, ja die ganze Messe
deutsch gelesen werden sollte. Er bekämpfte das Mißverständnis
der Messe als „gutes Werk", wodurch die gestifteten
und ein Teil der durch kirchliche Ordnung eingesetzten Messen
ihren Sinn verloren, so daß Luther den Rat gab, in jeder
Gemeinde täglich nur eine Messe in Anwesenheit der Gemeinde
zu feiern (WA 6, 362, 28-35; 375, 30-376, 16). Für
die Ehe der Priester hatte sich Luther schon in „An den
christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes
Besserung" vom 23. Juni 1520 ausgesprochen (WA 6,
440, 15—443, 24). Zur Aufhebung des Zölibates mußte auch
der im gleichen Jahr in Wittenberg erfolgte Nachdruck eines
Büchleins aus dem 11. Jh. helfen, das sich gegen den Zölibat
wandte und wahrscheinlich von Luther sein Vorwort erhielt
(WA Br 12, 22f.). Ebenfalls 1520 begann Luther in „De