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Ausgabe:

1972

Spalte:

953-955

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Strohmaier-Wiederanders, Gerlinde

Titel/Untertitel:

Dürers theologische Anschauungen 1972

Rezensent:

Strohmaier-Wiederanders, Gerlinde

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 12

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Mann gefunden und zum König erheben, der alsbald die
Ismaeliten (die Araber) und andere Feinde des Staates
besiegt. Sein Nachfolger regiert zwölf Jahre und pilgert
nach Jerusalem, um dort die Herrschaft Gott zu übergeben.
Danach reißt eine „schändliche Frauensperson* die Herrschaft
über Konstantinopel an sich, bis die Stadt zur Strafe
im Meer versinkt. Dann kommt der Antichrist, danach
schnell das Weltende.

Die meisten dieser Themen finden sich auch in einer
Schrift „Vom Mönch Daniel" und einer „Version Daniels
über die letzte Zeit". Die Darstellung einer Heuschrecken-
Plage in LVD 11-15 berührt sich mit Apkjoh 9,3-6. Hier
bietet wahrscheinlich die LVD eine von der Apkjoh unabhängige
Tradition (S. 159-161). Die LVD ist ein Zeugnis
der byzantinischen Orakelliteratur; ihren Kern bildet vermutlich
ein Orakel über die Reichshauptstadt Konstantinopel
. Das Werk ist christlich und frühestens im 7. Jahrhundert
(Arabersturm) in der Nähe der Stadt entstanden
(S. 260-262). Abzulehnen ist die bisher von der Forschung
vertretene Ansicht, die LVD ginge mit der armenischen
-Siebenten Version Daniels" auf eine gemeinsame Vorlage
zurück (S. 264-269).

Wiederandcrs, Gerlinde: Dürers theologische Anschauungen.
Diss. Berlin 1971, 228 S.

Der Marientod (1510) in der Holzschnittfolge des
arienlebens und die in der Aussage so gegensätzliche
ethsemane-Zeichnung von 1521 waren der Anlaß, nach den
heologischen Anschauungen Albrecht Dürers zu fragen,
war Dürer „katholisch" oder „evangelisch"? Oder suchte er
emen eigenen Weg in den kirchlichen Auseinandersetzun-
9en seiner Zeit?

Dm hierbei zu einem Ergebnis zu kommen, mußte
zweierlei getan werden: Dürers Umwelt, die räumliche und
«Je geistige, betrachtet und seine für einen Künstler jener
Epoche zahlreichen schriftlichen Zeugnisse nach seinen
Anschauungen befragt werden.

Die wichtigste geistige Bewegung, der Dürer in seiner
Vaterstadt Nürnberg und erst recht während seiner Wan-
«erzeit im Elsaß begegnete, war die apokalyptische Mystik.
Die Schriften des Johannes Tauler, der heiligen Brigitta
von Schweden, Rulmans u. a. wurden am Ende des 15. Jahrhunderts
nach Erfindung des Buchdrucks alle neu heraus-
9egeben. Zeitgenössische Propheten, wie Johannes Indaginc.
Johannes Lichtenberger, Girolamo Savonarola (Dürer lernte
seine Schriften wohl während der ersten venezianischen
Reise kennen) verarbeiteten die alten Mystiker und fügten
noch ein Neues hinzu: Das Gericht über diese Welt ist
nahe, denn die Verderbnis, vor allem in der Kirche selbst,
hat ihren Höhepunkt erreicht.

Weltgerichtsangst hat das ausgehende 15. Jahrhundert
'nsgesamt geprägt, Dürers nach 1495 entstehende Hol/.-
schnittfolge der Apokalypse wird in diesen Zusammenhang
eingeordnet.

Aber Dürer ist keineswegs ausschließlich von der Apo-
kalyptik beeinflußt. Andere Aspekte überwiegen weit mehr.
Das gerade beweisen uns seine eigenen schriftlichen Äußc
rungen. Sowohl das leider nur bruchstückweise erhaltene
Gedenkbuch als auch die zahlreichen Gedichte sprechen
von einem getrosten Gottvertrauen.

„Albrecht Dürer hilfft den rath gebn.

Wollt gott, ich künt selbst also lebn.

Das soll wir fröhlich all begern.

So würt vns gott erbermt gewern."

Dabei ist er sich bewußt, daß dieses Erbarmen Gottes
einen reinen Gnadenakt dem Sünder gegenüber darstellt,
der nicht etwa durch eigenes Verdienst des Menschen verursacht
werden kann.

Neben der apokalyptischen Mystik ist Dürer ganz
entschieden von der anderen großen Bewegung des Spät-

mittclalters geprägt, dem Humanismus. Das meiste hat ihm
dabei sein Freund Willibald Pirkheimer vermittelt, aber
Pirkheimer ist nicht der einzige (z. B. auch Spengler).

Der Einfluß des Humanismus hat sich aber nicht etwa
nur auf die formalen Gestaltungen Dürers ausgewirkt, sondern
ebenso auf die inhaltlichen. Dürers theologische Aussagen
sind ganz stark vom Humanismus geprägt. Dies wird
nirgends deutlicher als beim Christusbild. Vergleicht man
die Große Passion mit der Kupferstichpassion, so ist die
große Reduktion des Formenreichtums auffällig, die narra-
tiven Elemente treten zugunsten eindeutiger theologischer
Aussagen zurück. Die Kupferstichpassion stellt die einzelnen
Szenen dem biblischen Bericht gemäßer dar. Diese
Entwicklung geht eindeutig auf die Quellenforschung der
Humanisten - ihr Ruf „ad fontes" - zurück. Dürer hat ihr
Anliegen aufgenommen und selbständig verarbeitet.

In seinen Gedichten - das ist besonders auffällig -
bekennt sich Dürer immer wieder zur Zweinaturenlehre.
Das ist bemerkenswert. Denn Dürers Zeit war anfällig für
das Vergessen der natura divina über der in allen Bildern
ausführlich dargestellten natura humana. Dürer dagegen
bemüht sich immer wieder, bei aller Natürlichkeit seiner
Christusbilder stets die natura divina transparent -werden
zu lassen.

In seiner Einleitung zur Proportionslehre schreibt Dürer:
„Die Kunst des Malens wird gebraucht im Dienst der
Kirchen und dadurch angezeigt das Leiden Christi . . .". Er
bindet also seine Kunst streng an den Dienst der Kirche.
Von einer Autonomie der Kunst weiß er nichts. Dürer
steht - um 1510 auf jeden Fall - ganz auf dem Boden
der spätmittelalterlichen, katholischen Kirche. Deshalb kann
er den Tod der Maria in einer so vorher noch nicht
dagewesenen Weise gestalten zu einem Bekenntnis der
Kirche als Heilsanstalt.

In seinem Allerheiligenbild 1511 stellt er die ecclesia
visibilis et invisibilis um die heilige Dreifaltigkeit vereint
dar. Daran ändert auch nichts die eindeutig antipäpstliche
Polemik des Bildes. Dürer greift einzelne Erscheinungsweisen
der Kirche an (so auch in der Apokalypse), aber
die Institution bleibt unangefochten. Er sehnt sich nach
einer Reform der alten Kirche.

Dieses Verlangen machte ihn 1517 offen für das An
liegen der Rcformationstheologie. Aber seine Brief- und
Tagebuchnotizen zeigen, daß er sich in einer Weise für
Luthers Sache engagiert, die weit über ein bloßes Interesse
hinausging. Zwischen 1510 und 1517 muß ihm seine getroste
Zuversicht zerbrochen worden sein. Dafür sprechen
auch zahlreiche Marienbilder nach 1514 und die Apostelköpfe
von 1516. Die Gesichter sind in ungewöhnlicher Art
von seelischem Leiden geprägt.

Dürer hat sich alle deutschen Schriften Luthers zwischen
1518 und 1520 verschafft, das wissen wir aus seiner Bücher-
listc. Er hat wiederholt reformatorische Theologie zu
gestalten versucht, Gethsemane 1521, Crucifixus 1523, Antonius
1519, Christopherus 1521.

Da seine schriftlichen Zeugnisse nach 1524 insgesamt
spärlich werden, fehlen direkte Belege für Dürers Verbleiben
bei der Reformation bis zu seinem Tod (1528).

Aus einigen Notizen und Äußerungen von Zeitgenossen
läßt sich Folgendes behaupten: Eine deutliche Rückwendung
zur alten Kirche vollzieht Dürer nicht, aber auch keinen
direkten Anschluß an die sich entwickelnde Reformationskirche
. Die abzeichnende Frontbildung innerhalb der
Christenheit hat Dürer sehr schmerzlich berührt. Ihm ginq
es um einen Ausgleich der Fronten („Reform der alten
Kirche").

Was ihn zu besonderer Aktivität herausforderte, waren
die Lehren der sogenannten Schwärmer, vor allem deren
Leugnung der Gottessohnschaft Christi. Dazu hat er wiederholt
in Wort und Bild (Gethsemane 1524) Stellung genom-