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Ausgabe:

1972

Spalte:

922-924

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Titel/Untertitel:

Scriptum in librum primum sententiarum ordinatio 1972

Rezensent:

Junghans, Helmar

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 12

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keit, um aufschlußreiche Beobachtung zur Traditionsgeschichte
wie auch zur Textgestaltung zu nicchrn. Darauf kann
hier nicht weiter eingegangen werden. Für diese Anzeige
muß hingegen herausgestellt werden, wie die traditionsgeschichtliche
Methode des Autors bzw. das Kap. 3 („D:r
Sitz der .Legenda antiqua s. Francisci' im Leben") auch
darin den Prinzipien formgeschichtlicher Untersuchung gerecht
wird, daß sie den Spuren der Umwelteinflüsse und
religiöser Motivationen in der Legendenbildung bzw. -Überlieferung
nachgeht. Ist für die mündliche Franzüberlieferung
der Einfluß eines normativen, aber auch sich wandelnden
Heiligenbildes zu beobachten, und können an der
literarischen Gestaltung Einwirkungen der hagiegraphi-
schen Kunstsprache mit ihren künstlichen Gliederungsschemata
(Perikopen etc) aufgezeigt werden, so unterliegt
selbst die sich verfestigende Franzüberlieferung untersch'ed-
lichen Tendenzen frommer Erbauung, die jeweils nach
ihrem „Sitz im Leben" verschieden sind. 1.2Cel und LegMai
des Bonaventura sind „Legenden" im ursprünglichen Sinne
des Wortes, d. h. Tischlesungen, und darin an die städtischen
Konvente der Minderbrüder gebunden; in ihnen lebt daher
zwangsläufig die Frömmigkeit der sog. Konventualen mit
ihren gemäßigten Idealen fort. Umgekehrt ist die sog.
Gefährtenüberlieferung (Lcg3Soc; SpecPcrf; ActBFranc) in
die Einsiedeleien des Franziskancrordens zu verlegen. Dort
konnte man leichter ein rigoroseres Armutsideal fordern
und verwirklichen. Dort wird man auch im „praktischen"
und dann im „theoretischen" Armutsstreit den Spir'tualcn
größeres Verständnis entgegengebracht haben. Das rscht-
fertigt aber noch nicht das Urteil, die besagten Quel'en
seien das Produkt des franziskanischen Armutsstreites. Nur
indirekt nahm dieser Einfluß, nämlich als Auflösung der
Ordenszucht seine bedenkliche Nebenerscheinung war.
„Dieser Gefahr, daß die Liebe zum Orden von innen
her . .. ausgehöhlt wurde,. . . suchten die Korrpilaloren der
Franziskusbücher in den einzelnen Provinzen durch ihre
Werke zu begegnen" (S. 336).

Es ist verständlich, wenn ein gleichfalls im Jahre 1957
erschienener Aufsatz von Th. Desbonnets zur Franziskusüberlieferung
der Frühzeit noch nicht auf die e'n-
drucksvollen Forschungsergebnisse von S. Clasen e'ngeht.
Hingegen findet man keine Worte der Entschuldigung
dafür, daß drei Jahre später Rosalind Brook e e'nc
Textausgabe der Leg3Soc herausbringen konnte, ohne in
der sonst recht ausführlichen „Introduction" sich mit
Clasen auseinanderzusetzen -. Wohl ist der Editorin der
Beitrag von S. Clasen, Die Legenda antiqua des Hl. Franziskus
von Assisi (Miscellanea Mediaevalia III, Berlin 1934,
86-104) bekannt, die von dem Forschungsvorhaben des
Franziskanerpaters berichteten. Sie meint aber, d'escs
könne nur unsere Kenntnisse der franziskanischen Übcr-
licferungs- und Textgeschichte im allgemeinen fördern:
"But our investigation so far strongly suggests that it
(sc. a füll investigation of the MSStradition) affects the
fourteenth and not the thirteenth Century history of thesc
texts,- and their circulation after the compilation of SpecS
(sc. SpecPcrfSab) and the disappearance of Y (nach Brcokc
die verlorene, gemeinsame Quelle der HSS Roma, Collegio
S. Isidoro 1/73 und Oxford, Bodleiana Lat th. d 23) is a
large subject bound in any case to be beyond the scope of
this book" (aaO S. 41). Ursache eines so'chen Mißverständnisses
und solcher Mißachtung anders orientierter Franziskusforschung
scheint die irrige Auffassung zu sein, als
seien Textkritik an der handschriftlichen Über ieferung
und traditionsgeschichtliche Analyse der Quellen getrennte
Arbeitsfelder, die nichts miteinander zu tun haben. Solcher
Verdacht entzündet sich an ' der Beobachtung, daß die
Engländerin in ähnlicher Weise die ältere Arbeit zum
Problemkreis der Dreibrüderlegende aus der Feder von
Giuseppe Abate wohl in ihrem Literaturverzeichnis aufführt
, sie aber sonst mit Stillschweigen übergeht'. Dabe;

wissen wir aus der neutestamentlichen Disziplin schon
lange, daß literarkritische Textanalyse und formgesrhicht-
liche Traditionsanalyse keine Gegensätze darstellen, sondern
nur verschiedene, aber aufeinander abgestimmte
Methoden. Zweifelsohne ist die Franziskusforschung methodologisch
gesehen mit der Monographie von Clasen an
einen Wendepunkt gekommen. Die literarkritische Begründung
eines ganz bestimmten Franzbildes, das historische
Integrität beansprucht, wird durch die t'/aditions-
geschichtliche Auswertung der Überlieferung abgelöst, die
sich in erster Linie für den Einfluß franziskanischer Frömmigkeitswerte
auf ein sich deshalb auch wandelndes Franzbild
interessiert. Um so mehr sollte aber auch darauf ge
achtet werden, daß die beiden methodologisch unterschiedlichen
Forschungseinrichtungen sich gegenseitig nicht aus
den Augen verlieren. Diese Warntafel aufzustellen gibt
auch die Arbeit von Clasen Anlaß. Gerade weil sie jeder
Legende ihren spezifischen „Sitz im Leben" zuweist, wird
der unmittelbare Zugang zu dem geschichtlichen Franz
erschwert. Nur indem sie die einzelnen Legenden miteinander
vergleicht, die unterschiedrehen Motivationen erbaulicher
Art, den Wandel des jeweiligen Leitbildes und au:h
die literarischen Formkräfte der mittelalterlichen Hagio-
graphie berücksichtigt, kann die Franziskusforschung durch
die übermalenden Schichten der Franzüberlieferung hindurch
den „Franziskus der Gesch'chte" transparent machen.
Das Ergebnis dieser Standarduntersuchungen zeigt aber
gleichzeitig, daß es sich schon verlohnt, mit dem Autor
diesen mühsamen Forschungsweg zu beschreiten.

Göttingen Citri Andresen

1 Th. Desbonnets, Genealogie des biographies primitives
de s Frnneois, ArchFrancIIist 60, 1907, 273-316. Der Anfsntztitcl
ist etwas irreführend, weil der Vf. sich in erster Linie mit
einer Qnellennnalyse von 2 Ccl befaßt. - Editionsgrschichtlich
gesehen stellt die Gemeinschaftsarbeit von J. ('a m b e 11 OFM
und N. Vian, I Fiori dei Tre Compngni, Mailand 1966, bei
der Erstgenannter den lateinischen Text besorgte, Vian hingegen
die italienische Übersetzung, keinen Forlscliritt dar.

! Scripta Leonis, Rutini et Angeli. The Writings of Leo.
1?nflno and Angeld. Compenions of St. Francis, edited and
1 rnnsln tod bei Rosnlind B. Brook e, Oxford 1970. Die Kdito-
rin hat sich mit ihrer Monographie: Early Francisoan (iovem-
ment. From Elias to Bonaventura Cambridge 19.V.I als Historikerin
einen Namen gemacht.

• G. Abate, Nuovi stndi salin legenda di S. Finncescu
detta dei ,Tre Compngni', Rom 1939. Separatdruck aus den
Miscellanea Francescnna 39, 1939. l-45.»25,262.8S9-874.685-655.
Clasen setzt sich mit dieser Arbeit natürlich auseinander, vgl.
aaO Index.

Cckham, Guillelmi de: Scriptum in Librum Primum Sen-
tentiarum. Ordinatio. Prologus et Distinctio I, ed. G. Gäl
et St. Brown. 41*, 535 S. Distinctiones H-III, cd.
St. Brown et G. Gäl. 35*, 599 S. St. Bonaventurc, N. Y.:
St. Bonaventure University, Franciscan Institute 1967/70.
4° - Guillelmi de Ockham: Opera philosophica et theo-
logica, I, II.

Zu den vielen Fehlurteilen, die über Ockham in Umlauf
gebracht wurden, gehörte auch die Behauptung, er hibe
jeden Beweis der Existenz Gottes geleugnet. Dafür s:hien
es auch Belege zu geben, konnte doch aus 0:khams
„Quodlibeta" (I, q 1) zitiert werden: „Non potest sciri
evidenter quod Deus est". So stand es wenigstens in dem
Straßburger Druck von 1491. Philotheus Böhner könnt;
1950 zeigen, daß in dem Pariser Druck von 1487 und in
acht von zehn Handschriften noch „sie aeeipiendo Deum"
zu lesen war. Das entsprach genau der Gedankenführung,
die daraus hinauslief, daß bei einer bestimmten D;finition
des Gottesbegriffes die Existenz Gottes nicht bewiesen
werden könnte. Unter anderen Bedingungen kannte
Ockham sehr wohl Gottesbeweise.

Das angeführte Beispiel erweist als eines von vielen,
daß die am Ende des Mittelalters gedruckten Ockhamtexte
keine ausreichende Grundlage für eine sachgemäße Ockham-
darstellung sein können. Sobald daher nach dem ersten