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Ausgabe:

1972

Spalte:

890-892

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Barnikol, Ernst

Titel/Untertitel:

Ferdinand Christian Baur als rationalistisch-kirchlicher Theologe 1972

Rezensent:

Obst, Helmut

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 12

890

von diesem Zeitraum her. Für diese Lundenser Theologie
kam die Krise auf dem Gebiet der Ethik, und zwar
erstens aus den historischen Quellen, zweitens aus der alltäglichen
sozialen Erfahrung im Heute. In beiden Hinsichten
war Dozent Herbert Olsson unser Lehrer (er wurde
1954 Professor in Uppsala und starb 1969, ohne viel geschrieben
zu haben).

Weil die Lunder Schule Agape-Theologie war, konnte
sie das ethische Problem nur mit Hilfe des Schemas „Evangelium
und Gesetz" behandeln. Das war wohl die tle'sic
Ähnlichkeit mit Karl Barth und der ganzen dialektischen
Theologie. Andererseits hatten historische Quellen in Lund
einen Rang, den sie in Basel nicht hatten. Und sowohl
bei Aulen wie bei Nygren waren Luther und Irenaus
Quellen von ganz besonderem Rang.

Dort war, so hie5 es, das Agapemotiv bzw. der klassische
Versöhnungsgedanke deutlicher und klarer als in
irgendeiner anderen historischen Quelle.

Aber Herbert Olsson war reiner Historiker und besonders
Lutherforscher. Wir, die wir in den Jahren vor dem
zweiten Weltkrieg in Lund unsere Doktorarbeiten schrieben,
waren alle mehr oder weniger Schüler von Olsson. Wir
sahen alle dieselben historischen Realitäten, die Rolle des
Schöpfungsglaubens, der Gcsetzcslehre usw. Eine aus dem
Evangelium deduzierte Ethik war uns theologisch eine
Unmöglichkeit.

Gedruckt wurden unsere Bücher erst in den 40er Jahren
(meine Arbeit über den Beruf bei Luther z. B. 1942, über
Irenaus 1947 usw.) Was wir danach vorlegen, ist historische
Theologie, darin sind wir noch „Lundenser". Motivforschung
aber ist es überhaupt nicht. Im Gegenteil, hier liegt sehen
die Grundlage für eine Kritik der Motivforschung vor.

Für dieses Geschehen in Lund hat Hall aber kein
Interesse. Er befindet sich nämlich nicht innerhalb der
Lunder Motivforschung und lebt nicht in deren Problemen.
Er hat seine eigene Auffassung von Philosophie und von
Theologie. Bring ist nur ein Sprungbrett. Das zeigt sich in
dem letzten Kapitel über „Brings Begrenzung", wo
wir Halls eigene Methodenlehre präsentiert bekommen
(S. 205-243). Die nygrenschen „Sinnzusammenhänge" kehren
hier wieder, jetzt als vier konzentrische Zirkel gezeichnet
(S. 233). Die Wissenschaft ist eng und begrenzt, die
Religion ist offen und allumfassend. Bring hat in Lund
das alles, von Hall selbst mündlich dargestellt, schon
gehört, aber er hat es nicht als eine mögliche Lösung
betrachtet - und das versteht man, Der naive Optimismus
in Halls Verbesserungen ist auffallend unkritisch, hier ist
sein Buch für den kritischen Leser ohne größeres Interesse.

Interessant ist dagegen das allgemeine amerikanische
Phänomen. Hall ist der zweite Amerikaner, der die „Lundenser
Schule" in seiner eigenen Weise verbessert. Bernhard
Erling war der erste in der Reihe ("Nature and
History" 1960). Er wollte damals der Lundenser Theologie
eine neue „kerygmatische Funktion" geben (Erling 1£60,
S. 272, Hall 1970, S. 169, Anm. 1). Das wäre, meint Hall,
keine gute Verbesserung. Hall hat andere Vorschläge. Es
ist ganz deutlich, daß er an Wittgenstein und seine Sprachspiele
denkt (Hall, S. 140, Anm. 4, und S. 223, "Rc.igicus
language games are now considered valid and meaningful
in their own way").

Anders Nygren hat auch selbst in seinen späteren englischen
Schriften die Sprachspiele von Wittgenstein theologisch
ausgenützt, so z. B. in "Philosophical Essays dedi
cated to Gunnar Aspelin" 1963, S. 135 (language games
contexts of meaning). Aber die „Sinnzusammenhänge" von
Wittgenstein können nach verschiedenen Modellen theologisch
verkleidet werden. Thor Hall hat sein eigenes ame
rikanisches Modell, ebenso fern von Bring und von Nygren
wie Bernhard Erlings kerygmatische Neuschöpfung 1960.

Zuletzt ein Kommentar zu den positiv klingenden
Schlagwörtern bei Hall, „modern", „radikal" usw. Dies gehört
auch zu seiner ungewöhnlich offen exponierten
Naivität: man soll modern sein, es ist sehr gefährlich,
wenn man unmodern ist! Das ist das Höchste, was man
von der Lunder Schule, besonders Nygren und Bring, sagen
kann: sie sind modern. Aulen dagegen ist - infolge seiner
sprachlichen Mischung von Religion und Wissenschaft -
leider noch nicht ganz modern (Hall, S. 46-50). Ja, so
sagen Ausländer, die nach Lurd kommen und methodologische
Schriften, die 30 oder 40 Jahre alt sind, studieren.
Wir in Schweden kennen die praktische Wirkung, und wir
drücken uns nie so aus.

Die Radikalität und Modernität der Lundenser Schule
besteht nämlich in der Trennung von Religion und Theologie
. Solche Trennung bedeutet Zusammenarbeit mit radikaler
Philosophie, die keinen Sinn in den religiösen
Sätzen finden kann. Das ist gleichgültig, sagen die Lundenser
, diese Sätze haben keinen theoretischen Sinn, sie
gehören zu einem anderen Sinnzusammenhang. Aber man
kann diese Sätze wissenschaftlich in bezug auf ihr Grundmotiv
untersuchen. Wenn es nun, wie Hall meint, eine
Tugend ist, modern zu sein, können wir ja diese Gedankengänge
Modernität nennen.

Der christliche Glaube aber, der das Objekt der theologischen
Wissenschaft ist, führt nie ein Gespräch mit
theoretischen Sätzen. Er kann mit einer anderen Religion,
einem anderen Grundmotiv kollidieren, aber von Kollisionen
mit theoretischen Sätzen ist er grundsätzlich abgesperrt
. Lebt jemand in der Spannung zwischen Wissenschaft
und Glaube, dann hat er zwei verschiedene Sinnzusammenhänge
vermischt. „Die Frage ist falsch gestellt", so lautete
in Lund die typische Formel für die Unterbrechung aller
solcher Gespräche. Der persönliche Glaube lebt aber heute
oft in dieser Spannung. Die starre und konservative Kirchlichkeit
ist eine Ausnahme, sie ist zufrieden, wenn Spannung
und Gespräch aufhören. Die Lunder Theologie hat
in Schweden eindeutig konservierend und türschließend
gewirkt und damit eine starre Form von Kirchlichkeit
befestigt.

Und das ist kein Zufall und keine Inkonsequenz. Das
ist im Gegenteil eine direkte Folge der scharfen und
radikalen wissenschaftlichen Trennung von Christentum
und Wissenschaft. Sagt man, wie Hall es tut, von Gustaf
Aulen, daß er nicht fähig war, diese scharfe Trennung
durchzuführen (Hall, S. 48 f.), dann ist wohl diese „Unfähigkeit
" der Grund zu der Tatsache, daß gerade er, der
älteste in der Lunder Schule, wirklich der „modernste"
unter ihnen ist. Aulen analysiert Dag Hammarskjöld,
behandelt das Drama von heute, die Lyrik, den Roman, die
moderne Musik, und er baut überall Brücken, weil er nicht
richtig trennen kann!

Vielleicht ist er dadurch, wie Hall meint, unmodern.
Das spielt ja keine Rolle! Wir sind jetzt recht viele in
Lund, die sich überhaupt nicht darum kümmern, ob wir
von Thor Hall an der Duke University modern oder unmodern
genannt werden.

ALLGEMEINES, FESTSCHRIFTEN

Barnikol, Ernst: Ferdinand Christian Baur als rationalistisch
-kirchlicher Theologe. Mit den Nachrufen und
der Gedcnkvorlesung für Ernst Barnikol von G. Wallis,
E. Peschke u. W. Gericke. Berlin: Evang. Verlagsanstalt
[1970]. 62 S. gr. 8° = Aufsätze und Vorträge zur Theo
logie u. Religionswissenschaft, hrsg. v. E. Schott u.
H. Urner, 49. Kart. M 3,-.

Das Büchlein ist als Würdigung und Nachruf für den
bekannten hallischen Kirchenhistoriker Ernst Barnikol
(1892-1968) gedacht. Der aus den letzten Lebensjahren B.s
stammende Aufsatz über Ferdinand Christian Baur (S. 5-44),
in de» ot teilweise bereit» veröffentlichte Erkenntnisse