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Ausgabe:

1972

Spalte:

885-890

Autor/Hrsg.:

Wingren, Gustaf

Titel/Untertitel:

Was geschah eigentlich in Lund in den dreißiger Jahren? 1972

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 12

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treten sittlichen Forderung wird ihr der Dekalog und die
Predigt Jesu wie die der Apostel wichtige Dienste leisten"
(S. 188). Wie kann aber das Gesetz, das in seinem usus
theologicus immer Verderbensmacht ist, zugleich Zuchtmeister
auf Christus sein? Das Gesetz führt in die Verzweiflung
oder die Selbstgcrechtigkeit, damit ins Verderben,
nicht zu Christus. Zuchtmeister auf Christus wird es erst
durch den Glauben an das Evangelium. „Das Ziel, auf
Christus zu erziehen, erhält es von Christus selbst" (S. 197).
Aber „schwächt nicht überhaupt jeder Gedanke an das
Gesetz als Zuchtmeister auf Christus hin den scharfen
Gegensatz, den Eiert zwischen Gesetz und Evangelium
unbedingt gewahrt wissen will, in einem nicht unwesentlichen
Maße ab?" (S. 198). Schließlich bleibt die Frage, wie
sich die widersprüchlichen Aussagen vereinigen lassen:
Das Gesetz wird im Schicksal erfahren, und: Das Gesetz
wird im Wort offenbart. Aus vier Gründen kommt Eiert
nach Langemeyer hier nicht zur Klarheit: 1. Das Ziel des
Gesetzes bleibt undeutlich. Im allgemeinen führt es in die
Verdammnis; dabei kann das Wort zur Not entbehrt werden
. Es soll aber auch Zuchtmeister auf Christus sein; dann
muß „man die ganze Lehre vom Gesetz von Christus her
entwerfen" (S. 206). 2. Die theologische Methode ist
spannungsvoll: einerseits setzt sie bei der Erfahrung ein,
andererseits bei Schrift und Bekenntnis. 3. Elerts düstere
Schicksalsanalyse findet nicht bei jedermann und zu jeder
Zeit Zustimmung. Dadurch wird die Gesetzespredigt mit
ihrer gewissen Schwarz-Weiß-Malerei notwendig (S. 208 f).
4. Der Glaubende ist unfähig, „genau zu sagenk was er aus
unmittelbarer Daseinserfahrung weiß und was er erst
infolge des Wortes Gottes erkennt* (S. 210). „Eine Theologie
, welche die Erfahrungen mit einbezieht, . .. redet
notwendig oft gegensätzlich" (S. 212). Zu IV: Christus
erlöst „nicht als Erfüller des Gesetzes, sondern als Befreier
vom Gesetz" (S. 226). „Verzeihend befreit er vom Vergeltungsgesetz
, heilend von der Übermacht des Schicksals"
(S. 230). „In der Auferweckung vollendet sich die Macht
Jesu über das Schicksal, die sich in den Heilungen ankündigte
" (S. 236). Die menschliche Seite der Soteriologie wird
unter den Überschriften „Daseinsumwandlung", „Das Glauben
", „Die Freiheit" ausführlich dargestellt. Zu V: „Die
Lehre von der Freiheit des Christen leitet über ... zum
neuen Ethos des Christen" (S. 281). Auf dieses kann aus
Raumgründen hier nicht näher eingegangen werden. Lange-
meyer widmet ihm nicht weniger als zehn Paragraphen,
nämlich: „Erlebbare Auswirkungen der Rechtfertigung"
(Christusgemeinschaft, Einwohnung des Geistes, Gottebenbildlichkeit
, Ewiges Leben, Heiligung), „Gehorsam aus
Glauben", „Lieben aus Glauben", „Spezifisch christliches
Ethos" (Eiert hat „die Ablehnung eines spezifisch christlichen
Ethos nicht durchgehalten", S. 310), „Der Christ
gleichzeitig unter Gesetz und Evangelium", „Tertius usus
]egis", „Gericht nach Werken", „Christ und Welt", „Christ
und Geschichte", „Der Christ vor Gott". In seinen kritischen
Schlufjbetrachtung weist Langemeyer auf Unklarheiten und
Spannungen in Elerts Prinzipienlehre hin, wertet aber den
Schicksalsgedanken sehr positiv: „Seine Lehre vom Schicksal
dürfte wesentlich größeren Belang haben als seine Lehre
von Gesetz und Evangelium" (S. 388 f)- Die „Schicksalserfahrung
(hat) die Gesetzeslehre fast aufgesogen" (S. 395).

Da liegen allerdings auch die Probleme, die Langemeyer
einmal darin sieht, daß eine eigentliche Verkündigung des
Gesetzes bei Eiert fast unmöglich wird, dann auch darin,
daß er Gesetz und Evangelium als Verderben und Heil so
schroff gegeneinanderstellt, daß weder die christliche Glaubenserfahrung
noch das Zeugnis der Schrift, zumal des
Alten Testaments, damit zu vereinbaren sind. Eiert habe
auch selber diese Zuspitzung „nicht völlig durchhalten"
können (S. 390, vgl. S. 406-408).

Die Ergebnisse, zu denen Duensing und Langemeyer
unabhängig voneinander und von verschiedenen Standpunkten
aus kommen, ähneln sich. Dadurch kann sich beim
Leser der Eindruck verstärken, dafi, wie Duensing meint,
reformatorische Gesetzespredigt heute überhaupt nicht mehr
recht möglich ist, daß sie vielleicht auch nicht schriftgemäß
ist. Es kann hier nicht untersucht werden, wie weit Eiert
und Gogarten mit ihrer Gesetzeslehre als Interpreten
Luthers gelten können. Nur ein Hinweis sei gestattet:
Luthers Gesetzeslehre verbindet sich mit einer in der
Kirchengeschichte ungewöhnlichen Hochschätzung des Dekalogs
. Dieser bildet in seinen Katechismen das erste
Hauptstück, und zwar keineswegs nur als Sündenspiegel,
sondern als Lebensregel für den Christen, die freilich nicht
gesetzlich, sondern geistlich gebraucht sein will und daher
nicht ohne Glauben und Vaterunser verwirklicht werden kann.
Bei Luther jedenfalls ist von irgendeiner Verlegenheit
gegenüber dem Dekalog keine Spur. In die alttestamentlichc
Freude am Gesetz stimmt er im Blick auf den Dekalog
aus vollem Herzen ein: „Laß auftreten alle Weisen und
Heiligen, ob sie könnten ein Werk hervorbringen als diese
Gebot, so Gott mit solchem Ernst fodert und befiehlt.. .
Darum soll man sie je vor allen andern Lehren teur und
wert halten als den höchsten Schatz von Gott gegeben"
(Gr. Kat. 1,333). Der polemische Ton gegen die Weisen
und Heiligen zeigt, wie engagiert Luther hier ist. Gibt doch
der Dekalog u. a. dem Ehemann recht gegenüber dem
Mönch, der mit dem Anspruch auftritt, mit seiner Ehelosigkeit
im „Stand der Vollkommenheit" zu leben. Überhaupt
gibt der Dekalog dem alltäglichen unscheinbaren Leben
in Ausübung der Bruder- und Nächstenliebe recht gegenüber
jedem Heroenkult in Kirche und Welt. Gesetzespredigt
muß also in erster Linie Freude machen an den Zehn Geboten
. Der usus theologicus aber ist eine Frage der rechten
Stunde. Zur Zeit der Gnade muß Gesetz gepredigt werden
(um alle Selbstsichcrhcit und Überheblichkeit zu zerstören),
zur Zeit des Gesetzes Evangelium (um den Verzweifelten
aufzurichten und zu ermutigen). Darum ist nach Luther die
Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium so schwer,
weil die Diagnose so schwer ist, weil der rechte Augenblick
so leicht verpaßt wird. Wie etwa der usus theologicus
nach Luther zu handhaben ist, sieht man Gr. Kat.l, 310.
316.318.

• Duensing. Friedrich: Oesetz als Gericht. Eine luthorBchc
Kategorie in der Theologie Werner Elerts und Friedrich
Gogartens. München: Kaiser 1970. 165 S. 8° = Forschungen zur
Geschichte u. Lehre d. Protestantismus, hrsg. v. E. Wolf,
10. Iteiho, Bd. 40. DM 18,-.

* Langcmeyer, Leo: Gesetz und Evangelium. Das Grund-
nnlicgen der Theologie Werner Elerts. Paderborn: Verlag ri.
Ilonifacius-Druckerei [1970], 420 S. gr. 8° = Konfessionskundl.
u. kontroverstheologische Studien, hrsg. v. .lohann-Adam-
Möbler-lnstitut, XXIV. Lw. I>M 26,-.

Was geschah eigentlich in Lund in den dreißiger Jahren?

Von Gustaf Wingren, Lund/Schweden

Die „Lundenser Schule" in der systematischen Theologie wann hört sie auf? Und welche sind ihre charakteristischen

'st auch im Ausland ein Begriff, ohne daß man richtig weiß, Züge?

wie ihre Grenzen zu ziehen sind. Daß Gustaf Aulen, Stellt man solche Fragen, dann wird man bald ent-

Anders Nygren und Ragnar Bring dahin zu rechnen sind, decken, daß gerade die 30er Jahre dieses Jahrhunderts ent-

ist wohl klar. Aber wann fängt sie eigentlich an und scheidend waren. Zwar wurde Aulen schon 1913 Professor