Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1972

Spalte:

819-821

Kategorie:

Religionswissenschaft

Titel/Untertitel:

Le livre des morts des anciens Egyptiens 1972

Rezensent:

Blumenthal, Elke

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

819

Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 11

820

und Güte folgen werden und das Werk auf diese Weise in
absehbarer Zeit eine Vollendung erhält. Es wird dann zu
den Grundwerken der modernen Religionswissenschaft zählen
.

Leipzig Kurt Rudolph

1 Vgl. dazu den Bericht von Haas im ARW XIX. 1916/17. S. 437K;
K. Rudolph, ZRGG XXI, 1969, 249. Der von Haas und mehreren Mitarbeitern
herausgegebene .Bilderatlas zur Religionsgeschichte" erschien
von 1923 bis 1934 in 20 Lieferungen bei der A. Deichertschen Verlagsbuchhandlung
Dr. W. Scholl in Leipzig und Erlangen.

Barguet, Paul, Prof.: Le livre des morts des Anciens Egyp-
tiens. Introduction, traduction, commentaire. Paris: Les
Editions du Cerf 1967. 307 S. m. zahlr. Abb. gr. 8° = Lit-
teratures anciennes du Proche-Orient. Pp. ffr. 58.20.
Die ersten Ägyptologen nannten das Totenbuch „la Bible
des anciens Egyptiens". Wenn diese Bezeichnung mehr als
ein Bonmot gewesen ist, bekundet sie den Überschwang der
ersten Begeisterung über die ungewohnt reiche Zahl und
weite Verbreitung der Handschriften. Inzwischen weiß man
längst, daß die für funeräre Zwecke zusammengestellten
Spruchsammlungen der ägyptischen Totenliteratur eine andere
Funktion besessen haben als das Alte und Neue Testament
in den Buchreligionen Judentum und Christentum.
Trotzdem ist das Totenbuch eines der bekanntesten literarischen
Zeugnisse aus dem Niltal geblieben, und seine Bedeutung
für unsere Kenntnis von Religion und Kultur des
Pharaonenreiches kann als unbestritten gelten.

Die Benennung geht auf Richard Lepsius zurück (1842),
der auch als erster den magischen Charakter des Corpus
erkannt und diese Erkenntnis gegenüber der ursprünglichen
Vermutung durchgesetzt hatte, die Texte enthielten die Ritualvorschriften
und Gebete für den Vollzug des Totenkultes
. Anders als bei den literarischen Vorgängern des Totenbuchs
, den Sargtexten des Mittleren und den Pyramidentexten
des Alten Reiches, wird durch den Namen das Vorurteil
eines einheitlichen Literaturwerks hervorgerufen. Diese vermutete
Einheit ist eine Fiktion, auch wenn sie sich bereits
auf die Verwendung des ägyptischen Gesamttitels pr. t m
hrw (Buch vom) „Herausgehen bei Tag" (aus dem Grab seil.)
berufen kann. Jedenfalls tritt sie nicht im Sinne einer äußeren
Vollständigkeit oder inhaltlichen Homogenität in Erscheinung
. Die Aufzeichnung der Texte auf Papyri, auf Grabwänden
und -Stelen, auf Ostraka, Mumienbinden, Amuletten
und sonstigem Grabinventar brachte von Anfang an die Notwendigkeit
einer Auswahl und verschiedener Zusammenstellungen
mit sich. Aber auch das Spruchgut selbst ist allenfalls
in spätester Zeit als abgeschlossenes Ganzes behandelt
worden. Seine Geschichte, die sich seit dem Beginn des
Neuen Reiches verfolgen läßt, erweist sich als ein überaus
dynamischer Prozeß der Aufnahme und Umbildung älterer
Traditionen und neuer Elemente, in dem sich nur allmählich
Konstanten in der Sonderung und Gruppierung der Texte
abzeichneten und die Variation trotz redaktioneller Eingriffe
bestimmend blieb. Erst in den letzten Jahrhunderten v. Chr.
scheint man eine Art Kanonisierung des Bestandes angestrebt
zu haben, die sich sowohl auf die Zugehörigkeit als
auf den Inhalt und die Reihenfolge der Sprüche und die Anordnung
der Illustrationen (Vignetten) erstreckte (sog. „saitische
Rezension"). Auf der Grundlage einer derart redigierten
Textfassung zählen und zitieren wir 165 (Barguet: 162)
Totenbuchsprüche und eine Reihe von Supplementkapiteln.
Ihre Gemeinsamkeit beruht allein auf ihrer Bestimmung:
Quellen verschiedenen Alters und Umfangs, unterschiedlicher
Herkunft und Gattungszugehörigkeit (Hymnen, Gebete,
mythologische Literatur, Jenseitsbücher, Zaubersprüche
usw.) sind zum Heil des Verstorbenen kompiliert worden.
Den meisten hat man Titel gegeben, die, oft unabhängig
vom eigentlichen Inhalt, den Zweck des Spruches formulieren
: Die Sprüche sind dem Toten in den Mund gelegt und
bewirken durch ihre schriftliche Fixierung und (gedachte)
Rezitation, daß ihr Besitzer vor den Gefahren des Totenreiches
bewahrt bleibt, sich in den Gefilden des Jenseits zurechtfindet
und als seliger Verklärter alle Vorzüge seiner
neuen Existenz genießen kann.

Seit mehr als 100 Jahren wird kontinuierlich und erfolgreich
Totenbuchforschung betrieben. Aber die Fülle des bereis
veröffentlichten und des noch unpubliziert in Museen
magazinierten Materials sowie die wachsende Einsicht
in die Kompliziertheit der Überlieferungsvorgänge erschweren
die eigentliche Hauptaufgabe: die Erarbeitung einer
kritischen Gesamtausgabe.

Seit der Zeit Navilles, der 1886 anhand der damals bekannten
Handschriften des Neuen Reiches einen verbindlichen
Text herstellte und die Varianten verzeichnete, übersteigen
die Anforderungen an ein solches Unternehmen die Kräfte
eines Einzelnen, und ein Team von Spezialisten und internationale
Kooperation wären nötig, um eine moderne To-
tenbuchedition zu schaffen.

Die Schwierigkeiten des Forschungsstands mußten so ausführlich
erörtert werden, um den Umfang des Wagnisses
und die Größe der Leistung zu ermessen, die Barguets Gesamtübersetzung
des Totenbuchs bedeutet. Nicht nur Ägyptologen
werden die mutige Initiative des Vf.s dankbar begrüßen
und seine Ergebnisse ihrer eigenen Arbeit zugrunde
legen, sondern auch Fachnachbarn und intereressierte Laien,
denen bisher im wesentlichen nur Übersetzungen des 19. Jh.s
oder Ausschnitte in neueren Übersetzungssammlungen zugänglich
waren.

Für Nichtfachleute, „particulierement aux biblistes", ist
denn auch die Serie hauptsächlich gedacht, in der Barguets
Übersetzung erschienen ist, und diese Absicht bestimmt den
Stil der Darbietung.

Der Vf. geht so vor, daß er alle ihm zugänglichen Handschriften
heranzieht und seiner Übersetzung dann den jeweils
besten Überlieferungsträger zugrunde legt; zur Ergänzung
und Erklärung verderbter Stellen benutzt er ältere
Versionen (z. B. Sargtexte). Fußnoten in jedem Kapitel verweisen
auf die vorwiegend verwendete Quelle und auf die
Sekundärliteratur; außerdem werden kurze Erläuterungen
von Namen und Fakten gegeben. Die Übersetzung ist solide
und zuverlässig und gibt an vielen Stellen eine neue Interpretation
; wo sie unsicher ist, wird in den Anmerkungen
darauf hingewiesen. Aber wie weit sich der Vf. im Einzelfall
von der bisherigen Deutung einer Stelle entfernt und
auf welches Zeugnis er seine Konjekturen stützt, geht aus
seinen Kommentaren nicht hervor. Zweifellos bedeutet es
eine Erleichterung für den fachfremden Leser, daß ihm alle
philologische Kleinarbeit erspart wird. Doch müßte er woh!
trotz der mühelosen Lektüre erfahren, daß die Übersetzung
fast jedes Kapitels nicht den Text einer einzigen Handschrift
wiedergibt, sondern aus verschiedenen Fassungen kontaminiert
ist.

Barguet hat seine Übersetzung in fünf Abschnitte gegliedert
(La marche vers la necropole - La sortie au jour. La
regeneration - La sortie au jour. La transfiguration - Le
monde souterrain - Les chapitres additionnels), denen er
jedesmal eine Übersicht vorausschickt. Dies Verfahren ist
berechtigt, denn auch die ägyptischen Redaktoren haben
schon früh Spruchgruppen zusammengestellt oder aus älteren
Traditionen entnommen, und der „saitischen Rezension"
liegen offensichtlich sachliche Ordnungsprinzipien zugrunde.
Aber durch die Vorbemerkungen des Vf.s könnte, vor allem
bei den ersten Teilen, leicht der Eindruck entstehen, daß
sich in dieser Folge das Schicksal des Toten in der Unterwelt
widerspiegelt. In diesem Fall wird aber die Vielschichtigkeit
des Materials nicht berücksichtigt und den Redaktoren
eine absolute Konsequenz unterstellt, die wir nicht erkennen
können.