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Ausgabe:

1972

Spalte:

772-773

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pesch, Rudolf

Titel/Untertitel:

Freie Treue 1972

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 10

772

„sola fide, aher nicht solitaria fide. Sola fides nunquam sola!"
(S. 379). Der römisch-katholischen Kirche wird vorgeworfen,
daß sie durch ihre objektivierende Entfaltung den existentiellen
Christusbezug überdeckt hat, hierdurch konnten die drei
gefährlichen Nebenzentren der Mariologie, der im Papstamt
aufgipfelnden Ekklesiologie sowie der Meßopferlehre auswuchern
(S. 382). Der evangelischen Christenheit wie der gesamten
abendländischen Tradition wird vorgehalten, daß sie
die christozenlrische Verwurzelung unserer Rechtfertigung
und Erneuerung nicht voll zum Zuge kommen ließ. Die Teilhabe
am Auferstandenen sowie Christi Königsherrschaft
hätte auch in den lutherischen Bekenntnissen kräftiger entfaltet
werden sollen; dies gelte gerade im Hinblick auf den
heutigen Menschen und dessen Fragen nach einem Lebenssinn
. „Nur durch die communio Christi kann die Einsamkeit,
nur durch das regnum Christi kann die Angst des modernen
Menschen überwunden werden. Die als communio Christi
und als regnum Christi verstandene Rechtfertigung ist die
Antwort der Kirchen auf den Notschrei des modernen Menschen
" (S. 383; vgl. S. 344-351).

Eine kritische Würdigung dieser Arbeit wird zunächst positiv
hervorheben: Pöhlmann hat in ihr gleichsam ein Handbuch
geschaffen, in welchem vor allem der kontroverstheologisch
wie ökumenisch interessierte Theologe gerne nachschlagen
wird, um sich einen raschen Überblick zu verschaffen
. Ein immenses Stoffgebiet ist hier übersichtlich entfaltet
und zugleich griffig gebündelt. Diese Darstellung wird zugleich
dem Pfarrer eine gute Handreichung sein, um den
Menschen von heute die Rechtfertigungsbotschaft nahezubringen
.

Der denkerisch anspruchsvollere Theologe dürfte freilich
bemängeln, daß die zentrale Paradoxie: Alleinwirksamkeit
Gottes — nicht ohne Mitwirkung des Mensehen mehr von
außen her fixiert, als von innen heraus in ihrer zutiefst sinnhaften
Zuordnung durchdrungen ist. Wird doch gerade der
durch Gottes heilige Rechtsforderung aufgesehreckte und im
Gewissen getroffene Mensch seinen schwachen Glaubensund
Liebesgehorsam unermüdlich hineinbergen in Gottes
vorbehaltlose Hcilszusage. In Pöhlmanns plakativen Formeln
: Sola gratis non sine nomine, sola fides nunquam sola,
Solus Deus non sine homine, certus simul incertus, die Werke
nicht als Seins-, sondern als Erkenntnisgrund des Heils (S.
256ff.) oder gar: die Liebe als Konstitutivum des Glaubens
(S. 264f. 276ff.) seheint jeweils das Achtergewieht erneut auf
der Mitwirkung des Menschen zu liegen. Würde man dies in
die personale Innenspannung unserer Menschenexistenz zurückübertragen
, so könnte erneut das „katholisierende Mißverständnis
" aufkommen, als hinge unsere Gewißheit vor
Gott letztlich doch an dem „non sine nobis". Natürlich bekämpft
Pöhlmann dies unermüdlich; man hätte aber gewünscht
, daß die ursprüngliche Stoßrichtung des reformatorischen
Aufbruchs klarer in jene Formeln eingegangen
wäre. Diese kritische Anmerkung lenkt unser Augenmerk auf
die Aporie der reformatorischen Rechtfertigungsichre; sie
läßt sich in ihrer expliziten Reflexionsgestalt sinnvoll nur
nachvollziehen, wenn wir unermüdlich die Frage Luthers
stellen: Wo ist in, mit und unter unserem Tun und Lassen
unser vertrauendes Herz? Wenn der Rezensent sich hier
auch eine reflektivere Darstellung gewünscht hätte, so
möchte er doch diese überaus hilfreiche Arbeit dringend
empfehlen; sie stellt uns eindringlich die beiden Kirchen gemeinsame
Aufgabe vor Augen. Hermann Greifenstein
schließt sein Geleitwort mit dem Satz: „Es wäre etwas Großes
, wenn es den beiden christlichen Kirchen, die seit der
Reformation mit Recht nicht mehr voneinander loskommen,
vom Zentrum des biblischen Rechtfertigungsgeschehens her
gelänge, die Menschen unserer Tage, Selbstsichere wie Bedrückte
, wieder vor den letzten Richter zu stellen, der mit
unbestechlicher Gerechtigkeit richtet und in Jesus Christus
aus aller Verfallenheit retten will!"

Heidelberg Albrecht Peters

Alvers, Rubem A.: Symposium on „The People of God' :
The Hermeneutics of the Symbol (ThToday 29, 1972 S.
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Bosc, Jean: Die Katholizität der Kirche (KuD Reiheft 2,
1971 S. 22-30).

Despland, Michel: Symposium on „The People of God": A
Theological Appraisal (ThToday 29, 1972 S. 34-45).

Marks, John IL: Symposium on „The People of God' :
God's Holy People (ThToday 29, 1972 S. 22-33).

Pannenberg, Wolghart: Die Bedeutung der Eschntologie für
das Verständnis der Apostoli/.ität und Katholizität der
Kirche (KuD Beiheft 2, 1971 S. 92-109).

Pannenberg, Wolfhart: Gottesgedanke und menschliehe Freiheit
. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht [1972]. 128 S.
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Reymond, Bernard u. a.: L'apologetique aujourd'hui (EThR
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Schütz, Paul: Was heißt — „Wiederkunft Christi"? Analyse
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Herder [1972]. 96 S. 8° = Kirche im Gespräch. Kart.
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Witte, J. L.: Einige Thesen zur Sakramentalität der Kirche
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(KuD Beiheft 2, 1971 S. 74-91).

Zizioulas, J. D.: Abendmahlsgemeinschaft und Katholizität
der Kirche (KuD Beiheft 2, 1971 S. 31-50).

ETHIK

Pesch, Budolf: Freie Treue. Die Christen und die Ehescheidung
. Freiburg/Basel/Wien: Herder [1971]. 109 S. 8°.
Kart. DM 11,50.

Was wünscht der römisch-katholische Neutestamcntler?
„Der Ruf nach lebendigen Gemeinden, in denen Jesu Scheidungsverbot
unbedingt gilt, in denen aber nicht unschuldig
Geschiedene gestraft und in denen nicht der Umkehr und
dem Neubeginn christlicher Lebens Steine in den Weg gelegt
werden, ertönt immer vernehmlicher" (92). Wogegen
wendet er sich? Es soll „die strenge, gesetzliche abendländ-
dische Tradition in Sachen Ehescheidung ihre verbindliche
Kraft" verlieren (87). Wofür tritt er positiv ein? Es soll
„freie Treue" zum Maßstab allen Handelns erhoben werden.
Dieses Wort kehrt im Buch immer wieder und erfährt vielfältige
Beleuchtung.

Wie kommt Vf. zu seiner Meinung? Er beginnt mit einem
äußerst fruchtbaren Blick in das Neue Testament (7—76):
allen Meinungen mancher Ethiker zum Trotz, die die Hilfe
der Schrift bis auf ihr Grundgebol der Liebe in den Wind
schlagen. Vf. zeigt, wie das Herrengebot Jesu, das die Ehescheidung
verbietet, immer neuen Interpretationen in den
ersten Gemeinden unterliegt. Jesu Gebot wird „nicht gesetzlich
, sondern verbindlich" (7) ausgelegt. Jesu Stimme
kommt am besten in Mt 5,32 — ohne die Ausnahmeklausel —
zum Vorschein; und zwar will er den nach jüdischem Recht
zur Scheidung allein berechtigten Mann dazu provozieren,
seine Frau bei sich zu behalten. Mk 10,2—9 ist in der Auseinandersetzung
mit der jüdischen Scheidungspraxis, aber
schon auf hellenistischem Boden entstanden, wo auch die
Frau das Recht zur Scheidung besaß: Das Gebot Jesu wird
verteidigt; ebenso in 10,10—12, hier gegenüber laxen Gemeindegliedern
. Angesichts des nahen Endes und heidnischer
Verdächtigung handeln sie verkehrt, wenn sie sieh scheiden
lassen. Die Ausnahmeklausel Mt 5,32 begrenzt gegenüber
jüdischer Auffassung die Scheidung auf den Fall „der Unzucht
im Sinne ehelicher Untreue" (41), weil diese bereits die
Ehe zerstört hat. Mt 5,31 „interpretiert die christliche Praxis
.. . als die gegenüber der jüdischen .bessere Gerechtigkeit
(46). Ähnlich steht es Mt 19,3-9. Luk 16,18 wendet sich g<"
gen eine falsche sexuelle Freizügigkeit in heidnischer Umwelt
, ohne daß Lukas darum gesetzlich denkt. 1. Kor 7,10—16