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Ausgabe:

1972

Spalte:

635-636

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Otto, Gert

Titel/Untertitel:

Denken, um zu glauben 1972

Rezensent:

Kiesow, Ernst-Rüdiger

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Seite 1

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635

Theologisdie Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 8

636

von Landeskirchen) ergibt. Das Funktionalitätsprinzip
soll eine Demonopolisierung der Funktionsträger und damit
eine volle Integration der Laien herbeiführen. Die
kritischen Analysen dienen einem positiven Ziel. Wer die
anachronistische, z.T. auf die Ereignisse von 1802 und
1815 zurückgehende Abgrenzung der Landeskirchen vor
Augen hat, muß dem Vorwurf der Rückständigkeit auch
dann recht geben, wenn er das Pnrochialsystem und andere
umstrittene Fragen anders beurteilt als die Autoren. Es
ist zu hoffen, daß das Buch dazu beiträgt, den Realitätsgehalt
der Theorie und die Wirksamkeit der Praxis kirchlicher
Reformbemühungen zu erhöhen.

Halle/Saale Eberhard Winkler

Otto, Gert: Denken - um zu glauben. Predigtversuche für
heute. Hamburg: Furche-Verlag [1970]. 133 S. 8°. Kart.
DM 9,80.

Bei der Rezension von Predigten wird man immer wieder
berücksichtigen müssen, daß sie eigentlich nicht dem
theologischen Fachmann vorgelegt werden, sondern dem
Gemeindeglied, das zeitgemäße Verkündigung sucht und
das dann selber darüber urteilen müßte, ob das Gelesene
seine Erwartungen erfüllt. In unserem Falle besteht allerdings
für Kollegen und für homiletische Seminare die
Möglichkeit, auf die in den Vorbemerkungen (S.7) ausdrücklich
hingewiesen wird, diese „Predigtversuche" mit
den „Thesen zur Problematik der Predigt in der Gegenwart
" zu vergleichen, die Vf. 1970 in dem von P.Cornehl
und H.E.Bahr herausgegebenen Band „Gottesdienst und
Öffentlichkeit" publiziert hat. Leider sind dem Rez. die
Thesen trotz längerer Bemühungen nicht zugänglich geworden
, so daß er es bei einigen Eindrücken und Fragen
an den ihm auch persönlich wohlbekannten Autor bewenden
lassen muß.

Die insgesamt sechsundzwanzig Predigten sind chronologisch
derart angeordnet, daß man sich vom Jahre 1970
auf der ersten Seite bis zum Jahre 1963 am Schluß des
Bändchens sozusagen nach rückwärts hindurchliest. Der
Entwicklungsweg, den Otto nach seinen Vorbemerkungen
(S. 8) damit andeuten will, ist nicht auf den ersten Blick
zu bemerken. Zwar wird bei den jüngsten Predigten z.T.
auf die Voranstellung eines Textes (der im übrigen nach
der Züricher Übersetzung erscheint) verzichtet; aber auch
da folgt der Text innerhalb der Predigt (S. 11) oder ist
durch ein Motto aus der Liturgie ersetzt (S. 14) bzw. in
einem Fall auch durch neue Credo-Formulierungen von
D. Solle (S.26ff.).

Die zugrunde gelegten biblischen Aussagen oder Erzählungen
werden eigenwillig und frei, aber in der Regel
durchaus sinngemäß aktualisiert. Otto macht Ernst mit
der nichtreligiösen Interpretation auch der Gottesvorstellungen
selbst. Dies ist nun in der Tat mit zunehmender
Konsequenz an seinen Entwürfen von 1963 bis
heute zu beobachten. Zunächst - und manchmal auch
später - redet Vf. noch unbefangen und häufig von Gott.
Dann heißt es (1964): „Gott ist der Name, mit dem wir die
Liebe zueinander und das Leben füreinander benennen und
bekennen" (S. 110).Oder: „Aller Sinn, von Gott zu reden,
gipfelt in besserer Erfahrung menschlichen Lebens" (1967;
S. 66, Sperrungen im Original kursiv). Vielfach spricht
Vf. lieber von Jesus, der zwar tot und gestorben ist (S.45,
75), dessen Wort aber nach seinem Tode überhaupt erst
zu neuer Lebensmöglichkeit kam. „Wo dieses Wort uns
aber bewegt, da treffen wir Gott auf den Plätzen und
Straßen unseres Lebens" (S.77). Schließlich kann Vf.
auch die Christologie unmittelbar in Anthropologie und
Ethik überführen: „Auch die Rolle dessen, der Versöhnung
als Vermächtnis in der Welt gelassen hat, ... muß

nun in der Welt von Menschen wahrgenommen werden.
Und bis heute wird an dieser Rolle, in dieser Rolle gestorben
. Vor drei Tagen ist Martin Luther King in Amerika
ermordet worden" (S.34, 1968). Gerade in den zeitlich
letzten Predigten begegnet das social gospel am stärksten,
sei es unter dem Stichwort „Frieden" (S.14ff.), „Mission
" (S.21ff.) oder „Bekenntnis" (S.26ff.); denn: „An
Gott glauben ist dann nicht etwas Besonderes neben anderem
, sondern es ist die ungeteilte Hingabe an die Welt
(S.27).

Dies alles wird in so klaren, konkreten und treffenden
Formulierungen gesagt, daß die Lektüre einfach spannend
und erfrischend ist. Otto besitzt bzw. hat sich wirklich
die Sprachfähigkeit erworben, die von der modernen
Theologie insbesondere für die Predigt gefordert werden
muß und die doch leider Seltenheitswert hat. Ein Beispiel
für seine Gestaltungskraft gibt er nicht zuletzt mit der
Übertragung des 23. Psalms in heutige, gänzlich „weltliche
" Vorstellungen und Situationen (S.71). Hier ist es
gelungen: „Neue Wörter helfen die alten verstehen
(S.72).

Nicht gerade an dieser Stelle allein, vielmehr insgesamt
fragt man sich natürlich, ob das mehrdimensionale
blische Wirkliehkeitsverständnis sich unverfälscht auf die
eine Ebene der menschlichen Erfahrung heute projizieren
läßt. Dabei wäre nicht in erster Linie der dogmatische
Substanzverlust bedenklich, sondern vor allem r'10
Einengung der homiletisch-seelsorgerlichen Aussage-
möglichkeiten. Es mag wohl hilfreich sein, am Schluß
einer Predigt über Ps 42/43 zu vernehmen: „Warum
fragst du so unruhig, wo Gott ist ? Höre auf Jesu Wort,
sieh auf sein Verhalten und bedenke es im Material deines
eigenen Lebens, deiner eigenen Welt - dann wirst du danken
können für neue Möglichkeiten, dein Leben mit anderen
auszuhalten, dein Leben für andere in die Hand 7<u
nehmen. Dann brauchst du nicht zu verzweifeln" (8.63)-
Aber weshalb wird dem Leidenden der Hinweis auf die
direkte Anrufung Gottes oder der Trost seiner - wenn auch
verborgenen - Gegenwart vorenthalten und „Jesu Wort
zum Gottesersatz hypostasiert? Bloß, um dem Vorwurf
des Theismus zu entgehen? Gott ist doch immer größer als
unsere Vorstellungs- und Sprachfähigkeiten. Viele schlichte
und durchaus auch intellektuelle Christen ziehen die
Grenzen dessen, was sie glauben dürfen, nicht so eng, w,e
manche Theologen und Literaten es ihnen vom heutigen
Denken her gern nahelegen möchten.

Der programmatische Titel des Buches ist gewiß pr°"
vokativ gemeint und darum ungeschützt formuliert. Er
regt den Leser zum Fragen an, ob und in welcher Hin-
sieht überhaupt das Denken Grundlage oder auch nur
Ausgangspunkt für den Glauben ist. Im existentiellen
Vollzug erscheint der Glaube viel eher als deduktives
denn als induktives Geschehen, und so bedarf die These
im Titel eben doch zumindest der dialektischen Ergänzung
durch die klassische Formel von der fides quaerens
intellectum. Nur beides zusammen kann wahr sein.

Viele andere Probleme, die Ottos „Versuche" in dankenswerter
Weise neu anregen, müssen hier unerörtert
bleiben (auch Fragen der Exegese, wie z.B. nach dem
„Schlußgebet eines Taufgottesdienstes" in 1 Petr 4,7-lL
S. 107ff.). Es dürfte deutlich geworden sein, daß diese
Predigtsammlung nicht nur für den Homileten interessant
ist. Erwähnt sei noch die offenbar druckfehlerlose und
typographisch gute Gestalt des Bändchens, weil sie sien
bei der zumeist eiligen Buchproduktion nicht mehr immer
von selbst versteht.

Rostock Ernst-KüdiKor KieSO«