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Ausgabe:

1972

Spalte:

34-35

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Barrett, Charles K.

Titel/Untertitel:

The prologue of St John's Gospel 1972

Rezensent:

Wiefel, Wolfgang

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 1

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geben, die sie einem Leser katholischen Glaubens, der
innerhalb der von der Kirche vermittelten religiösen Vorstellungen
gelebt hat, kaum noch erkennbar werden läßt.

Während die Darstellung Jesu als eines Sozialreformers
oder gar -revolutionärs innerhalb der allgemeinverständlichen
Literatur des Protestantismus und ökumenischer
Kreise heute nicht mehr etwas absolut Neues ist, so wird
der protestantische Leser interessiert vor allem die historische
Kritik des Buches prüfen, um etwas zu lernen. Wenn
die Verlagsanzeigen ankündigen, daß der Vf. nicht nur die
Arbeiten der formgeschichtlichen Schule verwertet hat, sondern
auch aus neuentdeckten apokryphen Evangelien sowie
den Schriften von Qumran seine Folgerungen zieht, so
wäre hier ein Beitrag zur Forschung zu erwarten.

Leider erfüllt das Buch diese Erwartung nicht. Von der
modernen Exegese übernimmt der Vf. lediglich alles, was
ihm zur Destruktion des überkommenen Verständnisses
Jesu hilft. Aber er bleibt entgegen den Erkenntnissen
moderner Exegese an einer historisierenden Interpretation
haften. So nimmt er an, dafj der bethlehemitische Kindermord
auf ein Massaker zurückgeht, bei dem im Jahre
7 n. Chr. 300 an einer Verschwörung Beteiligte vom Pöbel
gelyncht wurden (S. 54). Es verwundert dann nicht, dafj C.
auch die überlieferten Wundergeschichten rationalistisch
deutet, wie es seit E. Renan üblich ist. Die Historizität der
Ereignisse wird nicht in Frage gestellt. Ebensowenig bezweifelt
G, daß Jesus ungewöhnliche Fähigkeiten psychotherapeutischer
Art besaß, die den Menschen damals wunderbar
erschienen, wie ihnen die Krankheiten unheimlich
waren. Aber er bezweifelt, „daß die Evangelisten die
Absicht hatten - in gutem oder bösem Glauben - ähnliche
Heilungen als Wunder auszugeben; sie wollten damit wohl
nur die heilende Kraft Jesu deutlicher machen, die auch
heutzutage gewi5 nicht alltäglich wäre ..." (S. 102). Wie
wenig C. tatsächlich die exegetische Forschung seit W. Wredc
aufgenommen hat, zeigt sich am deutlichsten darin, dafj
er selbst das Schweigegebot Mk 1, 43 f als historisch nimmt
und psychologisch auf den „Gedanken an die schwerwiegenden
Folgen" (S. 104) zurückführt.

Das daraus ersichtliche Vertrauen in die historische
Zuverlässigkeit der Berichte in den Evangelien zeigt sich
auch darin, da5 die Darstellung wie eine Evangelienharmonie
den Evangelien zu folgen sucht von der Geburt
über die Kindheitsgeschichten, die Taufe durch Johannes
und die folgenden Taten und Predigten Jesu bis zu dem
Prozeß und der Hinrichtung. Bei diesem Ereignis schlägt
allerdings die historische Skepsis des Vf.s durch und läfjt
ihn in Widerspruch zur eigenen Darstellung geraten. Einerseits
erscheint ihm der ganze Bericht vom Prozeß, Leiden
und Tod Jesu durch die alttestamentlichen Weissagungen
gestaltet, so daß sich historisch kaum etwas ausmachen
läfjt. Selbst am Prozeß vor Pilatus nennt er Zweifel, die
ihm darum als begründet erscheinen, weil „in den kaiserlichen
Archiven kein Bericht des Pilatus an Rom vorhanden
ist" (S. 395); aber das Resümee ist dann doch „schlichter
und tragischer. Jesus wurde vor Gericht gestellt und als
politischer Aufrührer hingerichtet" (S. 404). Obwohl dies
Ergebnis modernen Untersuchungen (P. Winter) entspricht
und in der inscriptio sein Dokument hat, ist in dem Buch
dafür die stichhaltige Begründung gerade nicht gegeben.
Trotzdem folgt eine Überlegung über die möglichen Todesursachen
und eine minutiöse Begründung, daß der Tod
Jesu um das Pessachfest des Jahres 30 erfolgte.

Anders als in der Behandlung von Wundergeschichten,
aber auch anders als seine Beurteilung der Leidensgeschichte;
ist die Stellungnahme C.s zum urchristlichen Zeugnis von
der Auferstehung. Mit Recht verwirft er für dieses Zeugnis
alle rationalistischen Erklärungsversuche, die er kurz aufzählt
(S. 411). Seine dann folgende eigene Interpretation
kann zumindest in Anspruch nehmen, neu zu sein. Die
Jünger wären nach geraumer Zeit wieder in Jerusalem

zusammengekommen und einer der Ihren - „anfänglich
scheinen sich Petrus und Johannes diese Ehre streitig
gemacht zu haben" (S. 412) - hätte die Rolle des hingerichteten
Meisters übernommen. Erst nachdem Paulus auf
dem Wege nach Damaskus eine gleißende Lichterscheinung
hatte, habe er seine Auferstehung in einem „geistigen, d. h.
aus einer gestaltlosen Substanz, wie Luft und Licht, bestehenden
Leib angenommen" (S. 413). Diese Vision falle
wahrscheinlich in die Jahre 43 oder 44 n. Chr. Da die
Evangelien erst mindestens dreißig Jahre später (?) geschrieben
wurden, konnte man darin die Behauptung aufstellen
, Jesus sei bereits vorher den Jüngern erschienen.
Daß Paulus selbst sich schon wenige Jahre später auf eine
Tradition solcher Erscheinungen beruft, die er übernommen
hat, ficht C. nicht an.

Obwohl aus den genannten Gründen, die nur an
Beispielen aufgezeigt wurden, die sich vermehren ließen,
das Buch der Forschung kaum Anregungen zu geben vermag
, wird das Aufsehen verständlich, das es in Italien
erregte. Und es kann durchaus sein, daß der Kern des
Buches, abgesehen von den historischen und literarischen
Unmöglichkeiten, seine Wirkung hat. Jesu „Frohbotschaft,
welche die irdische Hoffnung auf Glück, Frieden und
Gerechtigkeit für alle Menschen in sich barg" (S. 422), wird
zwar als „schöne Utopie" bezeichnet (S. 191), aber C.
bekennt sich zu dem Glauben, „daß Toleranz und Liebe
gar nicht als verdienstvolle Werke zu betrachten sind, die
uns das Seelenheil sichern, sondern als charismatische
Wirkung des Glaubens und der Geisteshaltung des
wahren Christen" (ebd.). Man kann nur bedauern, daß
dieser Glaube auf Grund einer überholten rationalistischen
Kritik den urchristlichen Glauben an den Christus nicht in
den Blick bekommen kann.

Die deutsche Übersetzung erscheint für die breite Öffentlichkeit
angesichts zahlreicher anderer Publikationen, die
sich kritisch mit der Tradition der Evangelien auseinandersetzen
, kaum als notwendig. Dem Theologen vermittelt
das Buch allerdings Kenntnis vieler Arbeiten italienischer
und weniger bekannter französischer Autoren, die von der
deutsch- und englischsprachigen Exegese kaum beachtet
wurden.

Lieh / Oberhetisen Haus-Werner Bartsch

Barrett, C. K„ Prof.: The Prologue of St John s Gospel. The
Ethel M. Wood Lecture delivered before the University
of London on 19. February 1970. London.- The Athlonc
Press. University of London 1971. 28 S. 8°.

Der Vf., der 1955 einen großen Johannes-Kommentar
veröffentlichte - ausführlich vorgestellt von G. Delling
ThLZ 82, 1957, Sp. 587-590 - wendet sich in dieser 15 Jahre
später gehaltenen Vorlesung noch einmal jenem Teil des
Evangeliums zu, an dem seither am intensivsten weitergearbeitet
wurde. Nachdem er eingangs die Versuche
referiert hat, einen „Urprolog" zu rekonstruieren (neben
Bultmann werden aus der deutschen Forschung vor allem
Käsemann und Schnackenburg berücksichtigt), wirft er
zwei Fragen auf, die den Einstieg für die eigene Lösung
des Problems bieten: die nach der Ursprache und die nach
der formalen Struktur des Prologs. Er bestreitet eine
semitische Urgestalt (Unübersetzbarkeit von V. 11); der in
einfachem hieratischen Griechisch verfaßte Prosahymnus
(verglichen wird C. Herrn. I, 31) habe von Anfang an auch
V. 6-8.15 umfaßt. Joh. d. T. werde in Zusammenfassung
dessen, was in Kap. 1 u. 3 entfaltet wird, als Stimme des
Alten Bundes gedeutet. Eine Abwertung des Täufers sei
hier wie im Evangelium selbst ebensowenig erkennbar wie
eine polemische Absicht gegenüber der Täufersekte. Wie in
diesen Versen die Gestalt des Täufers, so erfährt im Prolog