Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1972

Spalte:

511-513

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schille, Gottfried

Titel/Untertitel:

Das vorsynoptische Judenchristentum 1972

Rezensent:

Roloff, Jürgen

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

511

Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 7

512

in eine ähnliche Richtung. Die Hochzeit erfolgt erst mit
der Parusie, doch hat Gott schon entscheidend gehandelt
[14]; die Braut lebt zwischen den Zeiten, heifjt es zu Eph 5
[29). Eph 5,23 setzt bei 2. Kor 11,3 an [21 f]. Die Interpretation
des Kontextes wird durch B. besonders zu Eph 5,
25-27 von der Bildseite her weitergeführt [27-30]. Das
Bild vom Hochzeitsmahl in Apc [53-58] gibt vor allem der
frohen Erwartung der Gemeinde Ausdruck. Keine andere
Bildrede des Neuen Testaments, so stellt die conclusion
heraus, macht die Dialektik des Schon und Noch-nicht so
deutlich wie die von der Braut [67]. Sie bezeichnet weiterhin
die Relation von Herrschaft und Unterordnung in
bezug auf Christus und die Kirche - und das Verbundensein
beider [67-69]. B. bemerkt übrigens, daß die behandelte
Bildrede anscheinend in den Gemeinden Kleinasiens
eine Rolle spielte (2. Kor, Eph, Apc [63-65]).

In der Arbeit sähe man mitunter die Interpretation des
Textes gern etwas eingehender begründet.

Halle/Saale Gerhanl Delling

Schille, Gottfried: Das vorsynoptische Judenchristentum.

Berlin: Evang. Verlagsanstalt u. Stuttgart: Calwer Verlag
[1970). 96 S. gr. 8° = Aufsätze u. Vorträge zur
Theologie u. Religionswissenschaft, hrsg. v. E. Schott u.
H. Urner, 48.

Seinen zahlreichen Untersuchungen zu Einzelfragen der
frühchristlichen Traditionsbildung lieft G. Schille nunmehr
eine deren wesentliche Ergebnisse zusammenfassende und
in einen weiteren Rahmen stellende Studie folgen. Er
entfaltet in ihr in einer angesichts der Fülle des verarbeiteten
Materials erstaunlichen Dichte ein Bild der Geschichte
des frühen Urchristentums, das durch seine Originalität
besticht und auch da, wo es nicht überzeugt, zur
kritischen Revision traditioneller Urteile herausfordert.

Schille geht darauf aus, das verbreitete Klischee zu
destruieren, demzufolge das judäische Urchristentum Jerusalemer
Provenienz die Wurzel des Urchristentums überhaupt
sei. Zu ihm habe sich die Forschung einerseits durch
das falsche Geschichtsbild der Apostelgeschichte, andererseits
durch eine undifferenzierte Einordnung aller jüdisch
erscheinenden Elemente der Jesusüberlieferung als „judenchristlich
" verleiten lassen. „Die legendäre ,Urgemeinde'
und das ebenso legendäre Judenchristentum des Anfangs'
lassen sich einem reifenden Wildbach vergleichen. Selbst
kritischste Forscher sind dem Druck der Wassermassen gewichen
... Was überhaupt als alt galt, galt selbstverständlich
als judenchristlich" (S. 8). Die jüngere Forschung hat
sich „in Jerusalems Urgemeinde ein Denkmal vom Ausmaß
des Babylonischen Turmes gesetzt" ... Man wufjte über
diese Urgemeinde mindestens zehnmal soviel wie über
Jesus" (S. 10). Wie aber kann man zu einer methodisch gesicherten
Kenntnis über das Judenchristentum kommen?
Schillcs Antwort lautet: Indem man den Traditionen nachgeht
, die eindeutig judenchristliche Prämissen verraten.
Solche Prämissen sind einerseits in der Lokalisierung,
andererseits in spezifisch prophetisch-kultischen
Motiven zu suchen.

Was das erstere, die Lokalisierung, betrifft, so operiert
Schille hier wiederum mit seiner bekannten und umstrittenen
(vgl. W. Schmithals in ThLZ 93, 1968 Sp. 184 f) Hypothese
von der primären topographischen Bindung der
synoptischen Erzählungsstoffe. Es scheint ihm ausgemacht,
daß das charakteristisch judenchristliche Traditionsgut
seine primäre Lokalisierung in Bethanien gehabt habe. Hier
sei der Sitz der judenchristlichen Gemeinde gewesen, nicht
jedoch in Jerusalem, wo die - galiläische Traditionen vertretenden
- Apostel wirkten. Nun ist es in der Tat auffällig
, daß das kleine Bethanien am Fuße des Ölberges vor
allem im Umkreis des Passionsberichtes eine so große Rolle

spielt. Trotzdem leuchtet mir nicht ein, mit welchem methodischen
Recht Schille von hier aus so weitgehende Schlüsse
über die topologische Verankerung der Passionstradition
ziehen will, zumal er ja selbst erkennt, dafj es sich dabei
„stets schon um etwas jüngere Stoffe" (S. 19) handelt. Als
bethanische Lokaltradition wird man doch nur Mk 14, 3-9
mit einiger Sicherheit bezeichnen können, eine Perikope.
die dem Passionsbericht erst sehr spät zugeschlagen wor-
den ist. Der Einzugsbericht Mk 11,1-10 ist zwar deutlich
am Ölberg orientiert, hat aber (trotz 11,1) mit Bethanien
nur indirekt zu tun, und das gleiche gilt von 13, 3, wo der
Ölberg vermutlich als theologisch qualifizierter Topos eingeführt
ist. Der älteste Passionsbericht, ganz gleich, ob
man ihn mit 14,12 oder 14, 43 einsetzen läßt, weist keinerlei
Bindung an Bethanien auf, sondern ist eindeutig jerusalemisch
orientiert. So bleibt mir die Annahme am wahrscheinlichsten
, daß der Passionsbericht erst in einem sehr
späten (allerdings noch vorredaktionellen) Stadium die
Ölbergs- und Bethanientraditionen an sich gezogen hat,
wobei ein chronologisches und topologisches Interesse lei"
tend gewesen sein dürfte.

Die Theologie der bethanischen Judenchristen war nach
Schille gekennzeichnet durch organisch einander durchdringende
prophetische und kultische Motive, die im Traditions-
bildungsprozeß ihre deutlichen Spuren hinterlassen haben.
Zur prophetischen Rede rechnet er nicht nur, wie E. Käsemann
, Sätze heiligen Rechtes, sondern auch Gemeinderegeln
und apokalyptische Trostsprüche, wie sie die synoptische
Apokalypse (Mk 13) enthält (S. 26 f). Kultisch hingegen ist
seiner Meinung nach der Passionsbericht geprägt, dessen
ursprünglicher Sitz im Leben in verschiedenen Begehungen
zu suchen sei: der Mahlbericht Mk 14,22-24 gehe auf das
tägliche „bethanische Gastmahl als die Stunde der Sammlung
einer des Richters sehnsüchtig wartenden Gemeinschaft
" (S. 32) zurück; daneben steht die - jährlich begangene
und mit der Mahlfeier verbundene - Anamnese
der „Nacht des Verrates", die „mit der Verleugnung des
Petrus beim zweiten Hahnenschrei" (S. 35) endet; und
schließlich bilden die Kreuzigungsanamnesen den Niederschlag
einer wöchentlichen Begehung der Kreuzigungser-
innerung. Demnach wäre die Passionsüberlieferung der
erste Ansatz zu einer liturgischen Gestaltung des Kirchenjahres
: „So hat das judäische Christentum auf seine Weise
die Zeit unter den Herrschaftsanspruch Gottes zu stelle11
versucht, wobei das tiefere Anliegen der jüdischen Wochen-
und Jahres-Festordnung aufgegriffen und immer deutlicher
bejaht wurde" (S. 39).

Diese liturgische Deutung der Passionsgeschichte a's
solche ist keineswegs neu, sondern nimmt vor allem 'n
der angelsächsischen Forschung weit verbreitete Impulse
auf. Neu und ungewohnt sind hingegen die Folgerunge''1'
die Schille von ihr aus für die frühchristliche Traditionsbildung
abzuleiten sucht. Seiner Überzeugung nach bilde'
nämlich das judenchristliche kultisch-prophetische Milie11
den Mutterboden, auf dem die Überlieferung der Logie"1
Jesu ihren Anfang genommen hat. Am Anfang war nicht
wie der Konsensus der klassischen Formgeschichte i111
Gefolge Bultmanns besagte, die Überlieferung der Sprüch-
und Reden Jesu, sondern die kultisch motivierte ErzählungS'
tradition, aus der sich allmählich prophetische und liturgische
Sprüche entwickelten, die den Anfang der synoptischen
Worttradition bildeten. Die „judenchristliche Gemeinde
hat das Logion entdeckt . . ." (S. 50). Schille belegt diese
These vom Passionsbericht her: während die „Kreuzigungserinnerung
" im wesentlichen nur das Bild des schweigenden
Jesus zeichnet (Mk 15, 4 f), enthält die „Verratsnacht-
Anamnese" eine Reihe von Aussprüchen Jesu, die sämtlich
prophetischen Charakter haben (14,18.20 f; 14, 25.27.33.32-
34.36.37 f.41.48 f). In ihnen werde Jesus explizit als Prophet
dargestellt, und das heifjt: „sein irdisches Wort wird damit
zum Maßstab aller christlichen Prophetie" (S. 57). Aber