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1972

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Kirchengeschichte: Reformationszeit

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451

Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 6

452

KIRCHENGESCHICHTE:
REFORMATIONSZEIT

Schinzer, Reinhard: Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters
und Luthers refonnatorische Entdeckung.
München: Kaiser [1971]. 66 S. 8° = Theologische Existenz
heute, hrsg. v. K. G. Steck, 168. DM 7,80.

,Schon wieder eine Untersuchung über das sog. Turmerlebnis
Luthers', ist man versucht zu stöhnen. Doch sie bringt
einen durchaus selbständigen Gesichtspunkt in die Diskussion
, ohne alles Bekannte zu wiederholen und zu einem dik-
ken Band aufzublähen. Der Vf. stellt Luthers Entwicklung
zu seiner reformatorischen Entdeckung in die bekannte Verdienstlehre
der Spätscholastik hinein, nach der der Mensch
zunächst ein meritum de congruo zu erlangen vermag, das
mit einer Gnade belohnt wird, mit deren Hilfe er das meritum
de condigno erwerben kann, aufgrund dessen er am Jüngsten
Tag das ewige Leben erlangt. Unter welchen Bedingungen
der Mensch jeweils ein meritum zu erreichen vermag und in
welchem Maße Gott verpflichtet bzw. frei ist, ein meritum
zu belohnen, wird von den einzelnen Scholastikern unterschiedlich
beurteilt.

Die These des Vf. lautet: Luther hat zunächst die Lehre
vieler, aber durchaus nicht aller Scholastiker bekämpft, der
Mensch könnte allein aus seinen natürlichen Kräften heraus
das meritum de congruo erreichen, während er noch die Meinung
vertrat, der Christ müsse mit Hilfe der Gnade sich um
das meritum de condigno mühen, um im Gericht das ewige
Leben zu erhalten. Im steigenden Maße habe er dabei auch
die Mitwirkung des Menschen für das meritum de condigno
verringert, bis er schließlich 1518 jedes Vertrauen auf die
Verdienste zurückwies und den Glauben als „meritum to-
tum" bezeichnete, in der Auslegung zu Ps 5,12 in den „Ope-
rationes in psalmos", aber ganz mit der Verdienstlehre abrechnete
, so daß er das meritum nun auch für das Urteil am
Jüngsten Tage ausgeschieden hatte. In diesem letzten Schritt
allein sieht der Vf. die refonnatorische Entdeckung, die nach
seiner Meinung in den März 1518 fiel.

Diese Unterscheidung in der Verdienstlehre scheint viele
Aussagen Luthers in und über die Frühzeit in Einklang zu
bringen, aber es fragt sich doch, ob Luther in seiner berühmten
Vorrede zur Wittenberger Ausgabe seiner Werke nur die
iustitia Dei im Blick hatte — wie der Vf. unter Hinweis auf
den Anfang dieser Vorrede behauptet — und ob er überhaupt
sich streng an dieser Unterscheidung hielt.

Der Vf. deutet Luthers Aussagen zu R 1,17 in der Römerbriefvorlesung
so, daß sie sich nicht auf die Gerechtigkeit im
Endgericht bezichen, sondern beschreiben, „wie man zum
Gläubigen wird" (35). Sieht man aber einmal in die Nachschrift
dieser Vorlesung, so findet man folgende Interlinearglosse
(WA 57 I, 14,lf.): „ Iusticia enim dei ,virtus', in quam,
,in salutem', qua iusti sumus et salvi coram Deo..." Sollte
damit das Endgericht nicht angesprochen sein?

Entscheidender ist aber Luthers Auslegung von Ps 71 (72)
in den „Dictata super Psalterium", in der sich nach der Überzeugung
nicht weniger Lutherforscher bereits Luthers reformatorische
Entdeckung niedergeschlagen hat. Der Vf. behauptet
(65f.), Luthers Aussagen seien dort nur tropolo-
gisch, d. h. in bezug auf das geistliche Leben des Gläubigen
während seines Erdenlebens, aber nicht anagogisch, d. h. in
bezug auf das Endgericht, zu verstehen, denn anagogisch
sei die iustitia immer noch die strafende. Sieht man sich aber
den ganzen Abschnitt (WA 3, 466, 26—467, 4) an, so ergibt
sich ein differenzierteres Bild. Es trifft zu, daß Luther die
tropologische Deutung von iudicium bevorzugt, weil die ana-
gogische Deutung der entsprechenden Aussagen in den Psalmen
Schrecken einjagen, aber er sagt in diesem Abschnitt
nicht dasselbe über die iustitia Dei. Diese beschreibt er tro-
pologisch als Glaube an Christus, allegorisch sieht er sie in der

gesamten Kirche dargestellt, anagogisch ist sie für ihn Gott
selbst in der triumphierenden Kirche, also der Gemeinde der
Vollendeten nach dem Gericht. In keiner dieser Beschreibungen
, auch nicht in der anagogischen, ist die iustitia die strafende
Gerechtigkeit, sondern Luther verteilt vielmehr Verdammnis
und Errettung auf iudicium und iustitia: „Wie sich
aber die iustitia mehr auf die Guten bezieht und in ihnen ist,
so bezieht sich das iudicium mehr auf die Bösen und ist in
ihnen, denn iudicium klingt nach Verdammung wie iustitia
nach Errettung."

Ohne Zweifel ist es wichtig, zu beachten, in welchem Rah-
men Luther seine Gedanken allmählich entwickelt hat; ob
er aber dabei mit den scholastischen Begriffen auch immer
den scholastischen Inhalt verbunden hat, ist eine weitere
Frage. Der Vf. muß selbst zugestehen, daß Luther nach 1518
noch den Begriff meritum verwendete, was notgedrungen die
Frage aufwirft, ob Luther nicht auch schon vor 1518 diesen
Begriff „nachreformatorisch" verstanden hat. Werner Heisenberg
hat in einem Vortrag vor der Sächsischen Akademie
der Wissenschaften dargelegt, wie schwer es sei, für neue Erkenntnisse
die entsprechenden Anschauungen und Ausdrücke
zu finden. Wenn dies auch in bezug auf Atoinmodelle gesagt
war, läßt es sich doch auch auf Luthers reformatorischc Ent;
deckung übertragen, so daß damit gerechnet werden muß.
daß er eine Zeitlang das Neue in alten Kategorien aussagte-
Sehr unfruchtbar scheint es mir, davon zu sprechen, daß
die Auslegung von Ps 71 (72) „völlig unreformatorisch" (66)
und von R 1,17 ebenso wie von R 14,23 „vorreformatorisch'
sei (35.52). Das Ausmaß und die Art des Streites um das Reformatorische
bei Luther und den Zeitpunkt seiner Entdek-
kung hängt damit zusammen, daß man entweder in Luthers
Bericht über das Turmerlebnis das Reformatorische umfas"
send umschrieben sieht oder Luther verbessernd in einem
anderen Leitgedanken sucht. Es wird aber hilfreicher sein,
die gesamte Auseinandersetzung Luthers mit der Scholastik
(und sei es auch „nur" der Kampf gegen das meritum de
congruo) in das Reformatorische mit hineinzunehmen und
nicht zu vergessen, daß manches, was rasch als „vorreformatorisch
" abgestempelt wird, auch in der späteren Theologie
Luthers seinen Platz behält.

Offensichtlich regt die vorliegende Arbeit zur Diskussion
an. Sie ist ein wichtiger Beitrag für Luthers Auseinandersetzung
mit der scholastischen Verdienstlehre, auch wem'
nicht alle Leser die Hauptthese stichhaltig finden.

Leipzig Helmar Junglians

Alszeghy, Zollän, und Maurizio Flick: II Decreto Tridentino
sul peccato originale (Gregorianum 52, 1971 S. 595—637)-

Bäumer, Remigius: Das Trienter Konzil und die Reformatoren
(Catholica 25, 1971 S. 325-338).

Benz, Ernst: Wittenberg und Byzanz. Zur Begegnung und
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Beumer, Johannes: Die Geschäftsordnung des Trienter Kon"
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Fast, Heinold: Die Frage nach der Autorität der Bibel auf
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Lang, Justin: Die tridentinische Lehre vom Bußsakrament
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