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Ausgabe:

1972

Spalte:

196-197

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vanhoye, Albert

Titel/Untertitel:

Situation du Christ 1972

Rezensent:

Michel, Otto

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Theologische Literaturzeitung 97. Jahrgang 1972 Nr. 3

196

Ben-Chorin, Schalom: Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer
Sicht. München: Paul List Verlag [1970]. 239 S. 8°. Lw.
DM 16,80.

Im Unterschied zu der Mehrzahl der jüdischen Paulusdarstellungen
will Vf. eine positive Würdigung des christlichen
Völkerapostels geben. „Wir kennen ... kein größeres
Beispiel eines jüdischen Menschenlebens, das vom Ringen
um die rechte Gotteserkenntnis ausgefüllt war" (S. 9). Vf.
bemüht sich um den Nachweis, daß Paulus „Jude gewesen
und . . . jüdischer Theologe geblieben" ist (S. 9), daß er als
ein Diaspora-Jude der „Prototyp des Assimilationsjudcn"
(S. 100) war. Obwohl Vf. ein Schüler Bubers ist, wendet er
sich doch gegen seinen Lehrer, indem er nicht nur Jesus,
sondern auch Paulus als Repräsentanten der Emuna, „der
Glaubensweise des schlechthinnigen Vertrauens", ansehen
will. Paulus darf darum nicht aus dem Judentum herausgelöst
werden; denn „der Glaube des Paulus war der Glaube
Israels . . . Die Hoffnung des Paulus war die Hoffnung Israels
... Die Liebe des Paulus war die Liebe zu Israel" (S. 20).
Es ist nun aber die Tragik des Paulus, daß er notwendig
mißverstanden wurde. Dies hängt mit seiner Situation als
„Wanderer zwischen zwei Welten, der jüdischen und der
griechischen" (S. 100), zusammen. Bereits in seinem Doppelnamen
„kündet sich die Problematik jüdischer Existenz in
der Diaspora an, für die Paulus ein bleibendes Exempel
geworden ist" (S. 41).

Neben diesem Gegensatz: Israel - Diaspora macht sich
bei Paulus auch „der Gegensatz zwischen äußerer und innerer
Schau" sowie „der Gegensatz zwischen naiver und intellektueller
Interpretation" (S. 48) geltend. Deshalb muß Paulus
seine jüdische Existenz „immer wieder zum Problem"
werden (S. 55). Im Anschluß an Schoeps sieht Vf. als das
Zentrum der paulinischen Gedanken die „Äonen-Theologie"
an (S. 70), d. h. die Dreiteilung der Welt in 2000 Jahre Chaos,
2000 Jahre Gesetz und 2000 Jahre messianisches Reich, wobei
das Damaskuserlebnis „der Garant" sein soll, daß „das
messianische Reich und damit das Ende des Gesetzes" gekommen
sei (ebd.). Insofern kann Vf. behaupten, daß auch
die Erkenntnis der Erlösung vom Gesetz „keinen Ausbruch
aus dem Judentum" darstellt (S. 69). Der Irrtum des Paulus
besteht dann darin, daß „jener neue Äon des Messias, der
die Epoche des Gesetzes für Paulus abgelöst hat, nicht damals
und nicht heute angebrochen ist" (S. 19); denn „eine
Erlösung, die nur für Visionäre und Mystiker erlebbar ist,
ist für das Judentum keine Erlösung" (S. 20). Paulus wird
hier unter Berufung auf A. Schweitzer als „mystischer Denker
" und als von der „hellenistischen Apokalyptik" beeinflußt
(S. 74) eingestuft. Als „völlig Introvertierter" war für
ihn „die äußere Welt unwesentlich" (S. 142). Vf. macht Paulus
zu einem Vertreter einer „Philosophie des Als-ob" (S.
156) und läßt ihn „in bezug auf Sexus und Eros neuplatonisch
geformt" sein: „Die Materie ist schlecht, der Geist ist
gut; das Fleisch (sarx) ist der Inbegriff der Materie, des
Schlechten . . ." (S. 193). Merkwürdig ist, daß dann doch
dekretiert wird: „Paulus übernahm die Bausteine zu seinem
theologischen Gebäude, bewußt oder unbewußt, aus dem Judentum
. Es gibt in diesem gewaltigen Bau der paulinischen
Theologie kaum einen Bestandteil, der nicht jüdisch wäre"
(S. 181). Vf. bemüht sich deshalb durch Hinweise auf rabbi-
nische Zeugnisse, Punkt für Punkt nachzuweisen, daß „es
gar keinen Gegensatz zwischen Paulus und den Rabbinen
gibt, sondern daß er einer von ihnen war" (S. 114). Die Auflösung
dieser widersprüchlichen Aussagen findet sich in der
These: „Paulus hatte zwei konträre Lehrer: Gamaliel und
Philo" (S. 203). Im Blick auf Gamaliel kann sich Vf. auf Apg.
22,3 berufen, im Blick auf Philo argumentiert er folgendermaßen
: Beide verbindet der Versuch, „eine Synthese von
Judentum und Griechentum zu verwirklichen" (S. 198), beide
haben eine allegorische Bibeldeutung, auch in der Frage der
Beschneidung „folgt Paulus weitgehend dem Vorbild des
Philo" (S. 199). „Was Philo anstrebte, erfüllte Paulus . ..

Philo strebte die Ausbreitung jüdischen Lehrgutes unter den
Griechen an. Paulus gelang es, sein jüdisches Lehrgut unter
den Griechen auszubreiten" (S. 200). Die große Bedeutung
des Paulus erblickt Vf. darin, daß durch diesen die
Heidenvölker immer wieder „auf ihre geistige Abhängigkeit
gegenüber Israel hingewiesen (wurden) und auf die
Dankesschuld dem jüdischen Volk gegenüber" (S. 211). im
Anschluß an F. Werfel bekennt Vf.: „ Ich glaube, daß sogar
der Weg des Paulus in die Völkerwelt von seiner Liebe zu
Israel diktiert war" (S. 17). Das Ziel dieser jüdischen Paulus
-Darstellung ist darum mit Schoeps die „Heimholung des
Ketzers" (S. 108), die Beanspruchung dieses christlichen Völkerapostels
für das Judentum.

Der Wert dieser sehr flüssig und leicht lesbar geschriebenen
Studie besteht in dem ernsten Bemühen, jahrhundertealte
jüdische Vorurteile abzubauen und dadurch einen Beitrag
zu einem jüdisch-christlichen Dialog zu leisten. Offensichtlich
ist es in der besondern Situation des Vf.s in Israel
begründet, daß er gerade zu Paulus in seinem tragischen
Verhältnis zu Israel eine Affinität fühlt. Hinzu kommt, daß
Vf. auch durch sein Leiden am Gesetz dem Paulus nahegekommen
ist. „Wer nicht den Versuch gemacht hat, sein Leben
unter das Gesetz Israels zu stellen . . ., der wird Paulus
nie verstehen können" (S. 10). Aber gerade in seiner so
betonten Affinität zu Paulus liegt es auch begründet, daß
Vf. der Bekehrung des Paulus als Absage an das Gesetz als
Heilsweg und als Hinwendung zu der durch den gekreuzigten
Christus gewirkten justificatio impii nicht gerecht wird
und seine Zuflucht zu religionsgeschichtlichen und psychologischen
Erklärungen nimmt. Die Charakterisierung „Äonentheologie
" trifft ebensowenig die paulinische Theologie
wie ihre Einstufung als „Spiritualismus" samt der Ableitung
vom Neuplatonismus und von Philo als angeblichem Lehrer
des Paulus. Auch sollte man Paulus nicht als „Imperialist im
Reiche Gottes" (S. 79) oder als den „größten Umstürzler aller
Zeiten" (S. 31) bezeichnen. Dagegen ist es Vf. gelungen,
überzeugend nachzuweisen, wie stark Paulus von der Liebe
zu seinem Volk Israel bestimmt war und wie er dabei in
seiner Situation notwendig mißverstanden werden mußte-
Insofern hat er einen wichtigen Beitrag zu einem Gespräch
zwischen Juden und Christen geliefert, für den wir ihm
dankbar sein sollten.

Berlin Günther Baumbach

Vanhoye, Albert, Prof., S. J.: Situation du Christ. HebreuX
1-2. Paris: Editions du Cerf 1969. 403 S. 8° = Lectio Divina
, 58. ffr. 39.-.

Nach verschiedenen wichtigen Voruntersuchungen (vor
allem: La strueture litteraire de l'Epitre aux Hebreux 1963;
vgl. auch A struetured translation of the Epistle to the Heb-
rews 1963) gibt uns A. Vanhoye einen durchgehenden Kommentar
zu den beiden ersten Kapiteln des Briefes. Nach A-
Vanhoycs Ausarbeitung der „Struktur" wird damit das
„Exordium" 1,1—4 und der Vergleich der Würde des Sohnes
mit der Würde der Engel 1,5—2, 18 zusammengeschlossen
(„General outline" a) und Abschnitt I; im Kommentar Kapp-
II und III—V). Über die Anfügung von Hb 2,5—18 spricht
jetzt ausführlich der Kommentar S. 255ff. („Keine Abschweifung
", sondern Weiterführung: „Herrschaft über die zukünftige
Welt").Die beiden ersten Kapitel haben grundlegende
Bedeutung und können nach A. Vanhoye so zu einem selbständigen
ersten Band Kommentar zusammengefaßt werden-

Form- und gattungsgeschichtlichc Fragen werden sorgfä'"
tig behandelt. A. Vanhoye unterscheidet zwischen dem Corpus
der „Predigt" und dem angefügten „Epistelschluß": die
Predigt schließt, stilgemäß gesichert, mit 13,20—21 ab, die
„Epistel" mit 13,22—25. Die beiden Gattungen müssen geschieden
werden, die Epistelanfügung 13,22—25 stammt von
anderer Hand, könnte von Paulus selbst sein. Daß der Epistelschluß
von Paulus selbst angefügt sei, hat man schon