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Ausgabe:

1971

Spalte:

147-149

Kategorie:

Praktische Theologie

Titel/Untertitel:

Experiment Isolotto 1971

Rezensent:

Hertzsch, Klaus-Peter

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 2 148

147

renzen in die Gemeinden hineingetragen wurden, schildert
das Kapitel „Der Glaube im Vollzug" in einer Weise, die
das Umdenken der weithin noch in der Individualität
befangenen Gemeinden zur Wahrnehmung weltweiter Verantwortung
auch in den politischen und gesellschaftlichen
Bereichen erleichtern wird. Zu den Problemen, die sowohl
von der Theologie als auch von der praktischen Kirchenreform
in den letzten Jahren aufgeworfen worden sind
und erhebliche Unruhe ausgelöst haben (z. B. die Tauffrage
und die Frage der Gestaltung der Abendmahlsfeiern und
des Verlustes wesentlicher biblischer Dimensionen der
Eucharistie) äußert sich der Vf. im Bemühen um Fundierung
nach dem Stand heutiger exegetischer Forschung auf eine
zugleich behutsame und mutige Weise.

Die veröffentlichten Vorträge sind ein hilfreiches Informationsmaterial
. Es könnte besonders für gemeinsame
Arbeitsbesprechungen in kirchlichen Mitarbeiterkreisen und
Gruppen nützlich sein, in denen man seminaristisch zu
arbeiten lernt. Für weitere Auflagen ist zu wünschen, daß
zu den einzelnen Themen jeweils sorgfältig bedachte
Literaturhinweise für den Nichttheologen gegeben werden.

Cottbus Günter Jacob

Bastian, Hans-Dieter: Experiment Isolotto. Dokumentation
einer neuen Gemeinde, hrsg. u. eingeleitet, übers, v.
E. Labonte. München: Kaiser; Mainz: Matthias-Grünewald
-Verlag [1970). 195 S. 8° = Gesellschaft u. Theologie.
Abt. Praxis der Kirche, hrsg. v. C. Bäumler, H.-D. Bastian,
R. Bohren, M. P. Engelmeier, A. Exeler, N. Greinacher,
M. Josuttis, F. Kamphaus, P. Krusche, A. Müller, Y. Spiegel
, 1. DM 12,50.

Diese Dokumentation ist eigentlich kein theologisches
Fachbuch, aber sie kann viele von ihnen ersetzen. Auf zehn
Seiten leitet Hans-Dieter Bastian die deutsche Ausgabe ein;
auf siebzig Seiten wird vom Leben der Isolotto-Gemeinde
berichtet, vom neuen Verhältnis zwischen Priestern und
Gemeindegliedern, von neuen Wegen in Liturgie, Predigt
und Katechese, vom „selbstlosen Dienst der Pfarrei an der
brüderlichen Einheit des Viertels"; der Hauptteil des Buches
besteht aus einer dokumentarischen Chronik über die Zeit
von September 1968 bis September 1969, eine Zeit, in der
die Isolotto-Gemeinde im Mittelpunkt dramatischer Ereignisse
steht, „unter Anklage gestellt wegen Ruhestörung
und Störung von Gottesdiensten", in der Papst und Kardinäle
mit ihr befaßt werden, Presse und Öffentlichkeit
Italiens beteiligt sind, viele Priester und Gemeinden nach
Isolotto sehen, einige sich mit ihren Brüdern dort solidarisieren
.

Hans-Dieter Bastian legt diesen Bericht seinen deutschsprachigen
Lesern vor als ein höchst instruktives Stück
Krankheitsgeschichte unserer Kirche. Es ist aber nicht die
Geschichte eines schleichenden Siechtums, sondern Bericht
von der Krise. Hier wird nicht der langsame Verfall der
Kirche geschildert wie sonst häufig, sondern ihr innerer
Kampf um die Erneuerung; dieser Kampf ist noch nicht
entschieden.

Darum hat der kürzere erste Teil des Buches besondere
Bedeutung, in dem über die neuen Lebens- und Arbeitsformen
der Isolotto-Priester und ihrer Gemeinde berichtet
wird, über mehr als ein Jahrzehnt intensiver Gemeindearbeit
. Denn wir wissen, hier werden die eigentlichen
Schlachten geschlagen, die endgültigen Entscheidungen
fallen nicht dort, wo die Weichen gestellt, sondern dort,
wo die neuen Gleise auf die Dauer befahren weiden,
deshalb bedauert man es fast, daß über diese Periode der
Arbeit nicht mit gleicher Ausführlichkeit eine Dokumentation
vorgelegt werden konnte wie über das dramatische
Jahr 68/69. Freilich ist schon früher der „Katechismus des
Don Mazzi" veröffentlicht worden, aus dem man Details
über die neue Art der Katechese erfahren hat, und im
vorliegenden Buch bekommt man einen allgemeinen Eindruck
von den Grundlinien. Dies Konzept einer „pastoralen
Orientierung", dieser praktische Neubeginn „im Namen des
Evangeliums und des Konzils und im Namen alles dessen,
was uns für die Entwicklung der Menschheit hoffen läßt",
ist im Prinzip und in den konkreten Einzelheiten nichts völlig
Originelles. Von all dem hat man schon gehört und wohl
auch selber oft genug geredet: gesellschaftlicher Einsatz
der Kirche ohne Privilegien, vorbehaltloses Eintreten für
die Unterdrückten, aktueller Gottesdienst, dialogische Verkündigung
, Katechumenat als Lernprozeß für die ganze
Gemeinde samt ihren Pfarrern. Aber gerade darum ist es
erregend, in diesem Buch nachzulesen, daß dies alles offenbar
möglich ist, nicht nur akademischer Wunschtraum und
Laboranordnung, sondern Praktische Theologie in Aktion,
Hermeneutik im Modell, Gesellschaftsbezug des Evangeliums
im Exempel. Hier ist freilich nichts zu imitieren,
gerade weil die Lösungen so situationsgerecht sind: Viele
Sozialprobleme des Isolotto sind für uns hier gegenstandslos
, politische Aspekte unterschiedlich, Aufgaben spezifisch.
Nun liegt alles daran, daß es Isolotto nicht ergeht wie
Lambarene, das von vielen geliebt und bewundert wurde,
aber nur für wenige Anstoß zur eigenen Aktion.

So ist dies Buch zunächst ermunternd und ermutigend.
Seine Grundaussage aber ist tief kritisch. Es wird konstatiert
: Nicht die heutige Welt steht dem lebendigen
Christus im Wege, sondern die heutige Kirche. Die Armen
des Isolotto haben seine Botschaft an die Armen wohl
verstanden, aufgenommen und in Aktion umgesetzt; die
Kirche aber - hier vor allem in Gestalt des Erzbischofs
von Florenz Kardinal Florit - kann dies nur mit großer
Beunruhigung ansehen und zuletzt nicht mehr dulden.
Worum geht es? Die Priester des Isolotto haben für sich
die Konsequenzen aus dem Evangelium und den Beschlüssen
des Konzils gezogen: 1. Die Kirche muß die Armut der
Armen teilen. Aber Armut ist nicht eine Tugend, sondern
ein Übel, das zu überwinden ist. So geht es nicht um
Zufriedenheit mit wenigem, sondern um Solidarität mit
den recht- und besitzlosen Völkern und Klassen und einzelnen
- das hat erhebliche politische Konsequenzen.
2. Die Kirche darf keine Macht innehaben und ausüben.
Nicht eine hierarchische Ordnung von oben nach unten
mit Anordnung und Gehorsam entspricht dem Dienst Christi.
Sondern in der Gemeinde, die aus Laien besteht, müssen
die Laien reden und entscheiden können, nicht unter der
Leitung ihrer Pfarrer und Bischöfe, sondern in der Gemeinschaft
mit ihnen - das hat erhebliche kirchenrechtliche
Konsequenzen. Ausbruch und Eskalation der dramatischen
Auseinandersetzung zwischen der Gemeinde und ihrem
Erzbischof sind durch scheinbar kleine und offenbar auch
wechselnde Anlässe bedingt. Verwarnungen, Brüskierungen,
gescheiterte Kompromisse führen schließlich zu Priesterentlassung
und gerichtlicher Klage; Versammlungen, Diskussionen
, Unterschriftensammlung, Flugblätter und Demonstrationen
bringen die Gemeinde schließlich zur
Demissionsforderung gegen ihren Erzbischof und in eine
bedrängte Lage. All das sind jedoch Einzelheiten, über die
jeder von beiden mit sich reden ließe. Aber man redet
nicht miteinander, weil jeder zunächst sein Prinzip akzeptiert
wissen muß: Don Mazzi die pastorale Orientierung und
Bischof Florit die hierarchische Ordnung. Darum geht es.

Die Sache wäre einfach, wenn Kardinal Florit nichts
anderes wäre als ein bornierter Bürokrat. Dann wäre diese
Dokumentation eher ein Roman oder Film-Sujet. Nun aber
weiß Florit sehr gut, was er mit der wohlverfügten Ord
nung, mit dem Prinzip von Leitung und Gehorsam aufgäbe:
Schlagkraft des Evangeliums angesichts einer schlagkräftigen
Welt, Geborgenheit, die seine Kirche jenen bietet, die
eine bergende Heimat suchen, Verläßlichkeit mitten im
großen Wandel der heutigen Welt. Darum kämpft Florit
auf theologischem Schlachtfeld.

Hans-Dieter Bastian sagt: „Isolotto ist überall". Uns
alle lockt die Versuchung, als Christen schlagkräftig zu sein