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1971

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

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Neuerscheinungen

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Theologische Litcraturzcitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 2

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Grundlegend für das Verstehen des Strukturalismus ist
die Unterscheidung zwischen „Strukturellem" und „Strukturem
" (S. 20 ff.). Hier wird nicht nach der Struktur
der Wirklichkeit, dem Strukturellen, gefragt, sondern nach
der Struktur der Modelle, die der Mensch von der Wirklichkeit
entwirft: „Daß es das Strukturelle gibt, daß es
auch strukturiert ist, wird vom Strukturalismus als
Wissenschaft nicht negiert, sondern davon wird nur abstrahiert
. Denn der Strukturalismus ist der Ansicht, das
Stiukturale seinerseits sei eine für den Menschen so
bedeutsame .objektive Wirklichkeit', daß es sich lohne, sie
einmal ausschließlich zum Gegenstand der Wissenschaft zu
machen" (S. 22). Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit
"nd Modell könnte auch dem Christentum dazu verhelfen,
seinen Anspruch bescheidener zu formulieren; denn auch
für die Christen „ist die Versuchung grofj, das Modell für
die Wirklichkeit zu halten" (S. 23). Diese Einsicht könnte
zu einer Öffnung des eigenen Denksystems führen und
zur Befreiung von „intellektuellem Hochmut" (Levi-Strauss);
denn nun „ .. wird der Christ damit rechnen, Menschen zu
begegnen, mit denen man praktisch zusammenleben und
-arbeiten kann, ohne daß man im theoretischen Modell
Übereinkunft erzielt hat" (S. 23). Ideologische Grenzüberschreitungen
sieht der Vf. jedoch dort, wo der Strukturalismus
zur Ideologie der Sinnlosigkeit wird: „Alle Modelle
der Welterklärung, von den alten Mythen bis hin zu den
modernen Mythen der Wissenschaften, haben den Menschen
irregeführt, insofern sie nicht zu der Erkenntnis gekommen
sind, daß es keine andere «objektive Erkenntnis' ... gibt
als die von der absoluten Sinnlosigkeit des Daseins" (S. 24 f.)
Hier meldet der Vf. Widerspruch an.

Nach ähnlichem Schema werden auch die folgenden
Kapitel abgehandelt, etwa: „Sprache und Sprechen" (S. 27 ff.).
Auch zu diesem Themenkreis hat der Strukturalismus der
Kirche, die das Wort Gottes verkündigt, wichtige Einsichten
zu vermitteln. „Analysiert man die Modelle genauer,
die sich die Menschheit im Laufe der Zeit zur Beherrschung
und Erklärung der Welt geschaffen hat, stellt man fest,
daß sie sich in der Regel der Sprache direkt bedienen
°der ohne die Sprache nicht möglich wären. Ja es zeigt
s'ch, daß die Sprache selbst ein Modell von Welt ist, das
Urmodell, der erste und grundlegende Entwurf von Welt,
in dem jeder lebt, der spricht" (S. 27). Deshalb kommt der
Aneignung des Evangeliums wie jeder Nachricht in der
Jeweiligen Sprache große Bedeutung zu, ja der „christliche
Sprachenstreit" (S. 31 f.) beruhte auf dem Ernst dieser
Frage. Denn es gibt die Macht der Sprache, die zur „Übermacht
" werden kann. Nur - so Vf. - darf sich der Mensch
diesem System nicht total ausliefern. „Die prophetische
Begabung besteht gerade in der Fähigkeit, in überdurchschnittlicher
Weise die sprachlichen und begrifflichen
Kategorien eines Systems übersteigen zu können" (S. 36).
kies ist gerade gegenüber einer stukturalistischen Weltanschauung
zu betonen, „die einer völligen Systemverfallen-
heit des Menschen das Wort redet".

Unter dem Stichwort „System und Differenz" (S. 44 ff.)
wird zunächst positiv die Systembezogenheit (nicht notwendig
Systemverfallenheit) aller Phänomene herausgearbeitet
und unterstrichen. „Jede menschliche Erscheinung ist
e'n Teilelement einer sinnvollen Gesamtstruktur, deren
Herausarbeitung allein ihre objektive Natur und Bedeutung
erkennen läßt" (S. 46); dies ist ein Gesichtspunkt, der in
der christlichen Theologie noch viel zuwenig bedacht
Worden ist. Nur eine systembezogene, soziologische Betrachtungsweise
wird diese Seite der Wirklichkeit auch der
Theologie ansichtig machen. Die andere Seite der Wirklichkeit
ist nun aber gerade von der Erkenntnis bestimmt,
daß erst; ^ie Unterscheidung, also die Differenz, ein
Zeichen zum Zeichen werden läßt. Also ist sprachliche
Verständigung nur so möglich, daß Differenzen markiert
Werden, nur - sind diese Differenzen eben gerade ein
Mittel und nicht ein Hindernis für sprachliche Kommunikation
. Viele herkömmliche Gegensätze lassen sich als
zwei Seiten der einen Wirklichkeit beschreiben und dienen
gerade so der Integration. Doch mahnt Vf. auch an dieser
Stelle wieder, sich vor der Auffassung zu hüten, „der Mensch
sei nichts weiter als ein dem System ausgeliefertes Beziehungsbündel
und nur die Negation der anderen" (S. 56).

Die Lektüre des Buches macht deutlich: Der Strukturalismus
kann für die Kirche und die Theologie zur Herausforderung
werden, das eigene Denksystem kritisch zu
prüfen. Die strukturalistische Unterscheidung von „Signifikant
und Signifikat" (S. 57 ff.), also zwischen dem „Bedeutenden
" und dem „Bedeuteten" ist für den Umgang mit
„Sakramenten als Zeichen" (S. 58) und für die Verkündigung
des Evangeliums in immer neuen Situationen höchst
belangvoll; denn diese „hat Jesus Christus für das gegenwärtige
Verständnis umzuschreiben in die Sprache der
Hörer" (S. 67). Ferner: „Über die Strukturale Kategorie
.Schreibweise' ist es auch möglich, den Glauben als die
Fundamentalentscheidung des Menschen aufzuzeigen und
so die Moral mit dem Glauben zu verbinden" (S. 71).
Die Erkenntnis der Notwendigkeit jeweils neuer und eigener
„Schreibweisen" (auch Schweigen kann zur „Schreibweise"
werden!) könnte zu Toleranz und Öffnung der Glaubenden
führen: „Man muß immer von vorn beginnen" (S. 75f.).

Zum Thema „Mythos und Ideologie" (S. 79 ff.) hat der
Strukturalismus eine Fülle klärender Überlegungen beizutragen
: „Die Dinge verlieren in ihm (dem Mythos) die
Erinnerung an ihre Herstellung ... Ein Kunststück ist vor
sich gegangen, bei dem das Reale umgewendet, es von
Geschichte entleert und mit Natur angefüllt worden ist ...
der Mythos ist eine entpolitisierte Aussage" (89). Die Aufgabe
der Entmythologisierung und der Ideologiekritik nach
außen wie nach innen wird hier unübersehbar: „Nimmt
die Theologie diese Aufgabe nicht wahr, macht sie sich
zum Handlanger einer Ideologisierung des Christentums"
(S. 93).

Unter der Überschrift „Synchronie und Diachronie"
(S. 94 ff.) wird schließlich das Problem von Kontinuität und
Kontingenz verhandelt. Hier wird aber auch vollends deutlich
, daß Strukturalismus (als Weltanschauung) und Christentum
auseinandergehen. Es dürfte kein Zufall sein, daß die
ideologischen „Grenzüberschreitungen" der Strukturalisten
fast stets in Richtung Resignation, Verzweiflung, „Sinnlosigkeit
des Daseins" usf. erfolgen. „Unsere Aufgabe ist
es, uns endgültig vom Humanismus zu befreien" (Michel
Foucault). „Es gibt kein Entrinnen aus dem System, es ist
der Stärkere, und aller Wechsel der Systeme ist nur eine
.Formsache' in wortwörtlicher Bedeutung ... Revolution
lohnt sich nicht, und die einzig wahre Evolution ist die
wachsende Einsicht des Menschen in die Aussichtslosigkeit
des Systems" (S. 102). Der Strukturalismus ist die Weltanschauung
einer hoffnungslosen Generation.

Dagegen bekennt sich Schiwy zur Dynamik der Geschichte
, zur Freiheit des Menschen und also zur Veränderung
der Welt und der in ihr bestehenden Systeme.

Iiiickendorf Günter Krnsche

De Dijn, H.: Ervaring en theorie in de staatskunde. Een
analyse van Spinoza's „Tractatus Politicus" (Summary:
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Gex, Maurice: L'idealisme critique de Leon Brunschvicg
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