Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1971

Spalte:

120-122

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Seuse, Heinrich

Titel/Untertitel:

Deutsche mystische Schriften 1971

Rezensent:

Weiß, Konrad

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

119

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 2

120

im Gegensatz zu der von Alcuin propagierten .modernen'
Vorstellungswelt steht" (S. 185).

Christliche Elemente spielen nach diesem Bild nur als
zusätzliche Legitimation eine Rolle; der Kirchenhistoriker
wird sich aber diesem Aspekt mit besonderem Interesse
zuwenden. Das Verhältnis zwischen Karl Martell und den
Päpsten wird in den Annalen so dargestellt, daß Letztere
dem Erstgenannten „ausgesprochene Königsprädikate wie
gloriosus, excellentissimus und Excellentia beilegen und
die königliche Pflicht übertragen, die Kirche Gottes zu
verteidigen" (S. 77). Das Verhältnis Pippins zum merowin-
gischen Königtum vor dem Dvnastiewechsel von 751 wird
„im wesentlichen vom Begriff der pietas her bestimmt".
Die sogenannte Nomentheorie spielt auch in den Metzer
Annalen eine Rolle; die Wurzeln dieser Theorie liegen
„in dem augustinisch-christlichen Ordo-Gedanken der Spätantike
, wonach in der von Gott gesetzten Weltordnung
nomen und res, Amt und Ausübung der Amtsfunktion
untrennbar zusammengehören, in ihrem Auseinanderfallen
dagegen eine Störung des Ordo erkannt wird" (S. 80).
Wir begegnen dem „für unsere Quelle kennzeichnenden
Bestreben, die gleichsam königliche Tradition der Karlinger
in eine sehr frühe Zeit zurückzuführen und ihre
Stellung mit dem Willen Gottes zu begründen" (S. 80).
Diese Tendenz spielt natürlich eine ganz besondere Rolle
bei der Königserhebung Pippins d. J. im Jahre 751 (S. 111 ff.).
Die Annales Mettenses bemühen sich darum, „eine über
die geistlichen Funktionen hinausqehende politische Aktivität
des Papstes möglichst abzuschwächen" (S. 115). Hier
liegt eine der vielen Unausgeglichenheiten der Quelle: Die
Königserhebung Pippins schliefst sich „keineswegs organisch
der vorangehenden Darstellung an" (S. 117). Erneut wird
der bekannte WidersDruch zwischen dem Liber pontificalis
und den Annales Mettenses für die Papstreise des Winters
753/54 herausgestellt. Unsere Quelle betont einseitig die
Hilfsbedürftigkeit des Papstes und die Stärke Pippins; mit
Recht spricht H. von einer „bewußten Gegendarstellung"
(S. 124). Die Salbung von 754 wird als Konst:tuHvakt
interpretiert. Für die innerfränk'sehen Zusammenhänge
ist die Salbung belangslos, für den Papst aber bedeutet
sie eine Unterstreichung seiner Hoffnung, daß die Franken
der römischen Kirche Schutz gewähren. Dabei geht H. auch
auf die ^ugrurde liegenden Vorbilder aus dem Alten Testament
ein: Die Annales Mettenses wollen „die römische
Politik der Karlinger und letztlich ihr Kaisertum auf göttlichen
Willen und göttliches Eingreifen, auf eine ordinatio
divina, zurückführen" (S. 128). Die christlich-patristischen
Züge in der politischen Ideenwelt der Annales Mettenses
priores (Kap. VII, S. 152 ff.) werden durch eine Zusammenstellung
einzelner Begriffe wie pietas, pax, defensio und
fides sowie der negativen Gegenbilder beleuchtet. Freilich
ist sich die Verfasserin selbst darüber klar, daß zu einer
genaueren Erfassung der Begriffswelt eine gründlichere
Untersuchung nötig wäre (S. 152).

Sicher bringt uns die vorgelegte Arbeit in der Deutung
einer wichtigen und bisher oft zu sehr abgewerteten Quelle
ein Stück voran. Darüber hinaus werden eine Fülle von
Einzelproblemen der Karolingerzeit gründlich erörtert. Oft
genug wird vor der Darstellung der Annales Mettenses
ein Gesamtbild für eine kurze Epoche gezeichnet, die
manchem Leser vielleicht nützlicher sein wird als das
eigentliche Spezialergebnis zu den Metzer Annalen. Der
Überblick über die neuesten Forschungen zu den Ereignissen
der Jahre 753/54 sei als Beispiel erwähnt für solche
knappe, aber ausgezeichnete Information. Wahrscheinlich
werden sich die von H. vorgelegten Ergebnisse als haltbar
erweisen. Interessenten an der Geschichte der Karolinger
sollten diese Arbeit, die von W. Schlesinger angeregt und
von W. Fritze betreut wurde, nicht übergehen.

Rostock Gort Ifnmicller

Seuse, Heinrich: Deutsche mystische Schriften. Aus dem
Mittelhochdeutschen übertragen u. hrsg. v. G. Hofmann.
Düsseldorf: Patmos-Verlag [1966]. 432 S. 8°. Lw. DM 36,-.

Diese neue Übertragung von Seuses Exemplar und von
zwei seiner (für echt gehaltenen) Predigten hat in der
600. Wiederkehr seines Todestages (25.1.1366 zu Ulm)
ihre nächstliegende Veranlassung. Jedoch will das Buch
nicht nur als historische Dokumentation verstanden werden.
Der Herausgeber verspricht sich v^pn dem Eindruck, den
Seuses entsagungsvolles Leben, sein schweres inneres
Ringen und die tapfere Bewahrung des Errungenen auf
den Leser machen, eine vorbildliche Wirkung für unser
eigenes christliches Leben. Der Erreichung dieses Zieles
soll auch „die heutige deutsche Sprachform" dienen, die
der Hrsg. für seine Übersetzung gewählt hat. Damit setzt
er die Reihe der Seuse-Editoren und -Übersetzer von
M. DieDenbrock (1829) über H. Denifle (1880) zu W. Lehmann
(1911) und A. Gabele (1924) fort, von denen jeder
seinen Vorgänger durch sprachliche Anpassung an die
Gegenwart zu übertreffen suchtDaß dieses Verfahren
freilich seine engen Grenzen hat, haben Denifle („wer diese
Mvstik der heutigen Zeit mundererecht machen will, darf und
kann es nicht auf Kosten der Sprache tun") und Lehmann
(„ohne den zarten Duft der Seuseschen Dichtung zu zerstören
") sehr wohl erkannt. Die Respektierung dieser
Grenze wird daher das Urteil über den Wert einer Übertragung
wesentlich mit zu bestimmen haben. Dazu kommt
nun aber vor allem die Frage, wie weit die auch in der
poetischen Sprache Seuses - und wohl grade in dieser -
verborgenen Fußangeln phiFosophisch-theologischer Begrifflichkeiten
und Gedankenzusammenhänae richtig erkannt
worden und die in die Sprache der Mvstik eingefangene
unübertraqbare Einziaartigkeit der mvst'schen Erlebniswelt
in der Übertragung treu erhalten geblieben ist.

Um in dieser Hinsicht ein Urteil über die hier geleistete
Übertragungsarbeit zu gewinnen, sei das Verfnhren des
Übersetzers an zwei aus dem Büchlein der ewigen Wahrheit
herausgeoriffenen Kapiteln, der Disputation Seuses
mit „dem Wilden" (das die Brüder vom freien Geist
repräsentiert) über Meister Eckharts Lehren (Kap. VI)
und der Beschreibung des Lebens eines vollkommen gelassenen
Menschen (Kap. VII) überprüft. Dabei ergeben
sich folgende Tatbestände:

1. Verkürzung des Wortlauts der Vorlage (im Interesse
prägnanteren Ausdrucks), die zu Substmrverlust oder Sinnentstellung
führt. S. 355 (Bihlmeyer 352,12): „Da erblickte
er vor sich eine Gestalt" für „in der stilli s;ns g°mütes
begegnet ime ein vernünftiges bilde" läßt den Vorgang
einer geistigen Schau in kontemplativer Versenkung nicht
erkennen. - 356 (353.7): „in rechter Gelassenheit" für
„i. r. g. sins selbs" verflacht den gemeinten Sinn eines „S;ch-
Selbst-Lassens", „Sich-Selbst-Aufqebens", „Seiner-Selbst-Ent-
sinkens" fast ins Profane. - 360 (358,16 f.): einfaches „und"
für „und aber" (— und wiederum) unterdrückt den adversativen
Sinn von Konjunktion und folgendem Satz. -
360 (357,17): „alles" für „elliu ding" blaßt die Aussage ab,
in der es grade darauf ankommt, daß der gelassene
Mensch mit sich selbst auch der Vielfalt der Dinge
„entsinkt".

2. Wahl geläufiger moderner Wendungen, die den Text
banalisieren: 356 (353,30): „im tiefsten Grunde" für „in
sinem ersten gründe" (hier muß wörtlich übersetzt werden
). - 358 (355,6): „Art eines Christenmenschen" für
„kristmessiger mensch" (sh. dagegen Denifle u. Lehmann:
„christförmig"; Gabele: „christgemäß"). - 360 (357,19): „im
gegenwärtigen Augenblick" für „in einem gegenwürtigen
nu" (es ist das zeitlose „nu" der Ewigkeit, in dem der
Gelassene steht). - 360 (358,7): „sich im Zustand innerer
Gelassenheit befindet" für „in diser inniger gelazenheit
übersetzet ist" unterdrückt das Moment des mystischen
Transzendierens. - 361 (358,21): „womit beschäftigt er
sich?" für „waz ist sin tun?". - 361 (359,16): „er fällt