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Ausgabe:

1971

Spalte:

111-112

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Spicq, Ceslas

Titel/Untertitel:

Saint Paul, les épitres pastorales 1971

Rezensent:

Lohse, Eduard

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Seite 1

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men wird? Weiter: welche theologische Bedeutung hat nun
gerade die Vielstimmigkeit des N.T.? Und endlich: welche
Rolle kommt einer so entworfenen Theologie des N. T. im
Gesamtgefüge heutiger Theologie zu? Es ist die herme-
neutische Seite des Unternehmens, die man gern noch
etwas ausführlicher berücksichtigt sähe.

Corrigenda: S. 152 Z. 11 v. u. muß es „hellenistischen"
statt „hellenstischen" heißen; S. 221 Z. 7 v. u. fehlt nach
„daß er" ein „die".

Leipzig Giintnr Unufe

Spicq, C. O. P.: Saint Paul, les epitres pastorales. I et II.

Quatrieme Edition refondue. Paris: Librairie Lecoffre,
J. Gabalda et Cie. 1969. 845 S. gr. 8° -= Etudes Bibliques.

Dieser gelehrte Kommentar, der 1947 zum ersten Mal
erschien und nunmehr bereits in überarbeiteter vierter
Auflage vorliegt, ist in dieser Zeitschrift noch nicht besprochen
worden. Die Ergänzungen und Verbesserungen,
die das Werk inzwischen erfahren hat, bedeuten an keiner
Stelle eine grundsätzliche Veränderung der vom Vf. vertretenen
Position. Die Auswertung neuer Quellen wie der
Qumrantexte und die kritische Verwendung der internationalen
wissenschaftlichen Diskussion sollen vielmehr dazu
dienen, die vom Vf. entwickelte Sicht der Pastoralbriefe
noch stärker zu unterbauen. Es empfiehlt sich daher, nicht
im einzelnen auf die Veränderungen einzugehen, die in
den verschiedenen Auflagen des Kommentars vorgenommen
wurden, sondern die Aufmerksamkeit auf die Leitgedanken
zu richten, die die Erklärung und historische Einordnung
der Texte bestimmen.

Die Pastoralbriefe werden als Dokument eines christlichen
Humanismus bestimmt (S. 295), das das erste Zeugnis
christlicher Religion und Ethik in genuin griechischer
Sprache darstellt (S. 9). Sie spiegeln die Konfrontation des
frühen Christentums mit dem griechischen Geist und die
Reaktion christlicher Orthodoxie auf den Eklektizismus
hellenischen, jüdischen, orientalischen und römischen Denkens
wider (S. 33). Kein anderer paulinischer Brief repräsentiert
wie die Pastoralbriefe „la doctrine chretienne en
formules plus grecques" (S. 226). Ihre literarische Gestalt
ist den Anordnungen, Dekreten, Edikten und genauen
Anweisungen vergleichbar, die die Verwaltung hellenistischer
Regierungen in Form brieflicher Korrespondenz
ergehen lief} (S. 34). Die Aufgaben, die Timotheus und
Titus zu erfüllen haben, sind durchaus denen eines hellenistischen
Statthalters ähnlich; denn sie haben in den
Gebieten, für die sie verantwortlich sind, wie ein Provinzstatthalter
ihres Amtes zu walten, Ordnung zu halten,
Amtsträger einzusetzen und die Aufträge durchzuführen,
die ihnen der Apostel erteilt hat (S. 36 f.). Der 2. Timotheusbrief
ist in persönlicherer Weise nach dem Vorbild
eines Testaments gestaltet (S. 45). Ihrem Inhalt nach
jedoch bilden die drei Briefe eine sachliche Einheit, indem
sie christliche Ethik in hellenistischer Begrifflichkeit entfalten
(S. 38-41), apostolische Anordnungen zur Organisation
der Kirche bieten (S. 62) und eine judenchristliche
Irrlehre (S. 101), die prägnostische Züge trägt (S. 114),
abwehren. Dieses geschlossene Bild, das von der theologischen
Eigenart der Pastoralbriefe gezeichnet wird, ist
vorzüglich dokumentiert und darf als schlechthin überzeugend
gelten.

Der Vf. begibt sich jedoch mitten in den Streit der
Meinungen, indem er mit allem Nachdruck die These verficht
, die Kirchenordnung der Pastoralbriefe gehe auf denselben
Autor zurück wie die der Korintherbriefe (S. 83).
Der Schwierigkeiten, die dieser Sicht entgegenstehen, ist
er sich wohl bewußt, doch sucht er ihrer entschlossen
Herr zu werden: Die Pastoralbriefe gehören an das Ende
der Wirksamkeit des Apostels. Paulus muß nach einer

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ersten römischen Gefangenschaff noch einmal freigekommen
sein und sein Werk im Westen und im Osten des Reiches
fortgesetzt haben. Neben den äußeren Daten der Pastoralbriefe
sollen 1. Clem. 5 und der Kanon Muratori die
Beweislast tragen (S. 135-138). Wenn die Briefe in der
Zeit zwischen 63 und 67 n, Chr. entstanden sind, so war
Paulus danach mindestens 60 Jahre alt, also ein senex
(S. 147). Die psychologische Lage eines alten Mannes,
zumal eines Gefangenen, aber soll die Abfassung der Pastoralbriefe
vollauf verständlich machen können. Denn ein
alter Mann unterweist gern Jüngere und gibt ihnen Ratschläge
(S, 148). Seine Gedächtniskraft läßt nach, so daß
er des öfteren auf dieselben Wendungen zurückkommt und
wiederholt von „den guten Werken" oder „der gesunden
Lehre" spricht (S. 151). Als Gefangener in der Fremde
bemüht er sich, seine Kenntnis der Sprache des Landes zu
vervollkommnen (S. 155), so daß es nicht verwunderlich
sein soll, daß die paulinischen Hauptbriefe in gewöhnlicher
Koine geschrieben, die Pastoralbriefe aber in einem hellenistischen
Griechisch gehalten sind, das weitaus literarischer
wirkt als der Stil der anderen Briefe (S. 182). Überdies
ist zu berücksichtigen, daß ein Autor sich auf die jeweilige
Situation einstellt, in der die Adressaten sich befinden,
und seine Ausdrucksweise entsprechend einrichtet (S. 193 bis
196). Die Unterschiede, die zu den anderen paulinischen
Briefen bestehen, sollen also durch die ständig wiederholte
Auskunft erklärt werden, der Paulus der Pastoralbriefe sei
ein alter Mann (S. 176.179.189 u. ö.). Das Ergebnis der
weitausholenden Argumentation lautet daher: «Les Pastorales
n'offrent aucun caractere qui exclue leur origine
paulinienne. L'evolution du style de l'Apötre peut etre due
ä sa culture grecque et romaine plus achevee, son vocabu-
laire aux sujets qu'il aborde pour la premiere fois, le ton
de ses exhortations, ä son äge et au fait qu'il s'adresse ä
des disciples» (S. 198). Dabei soll freilich die Möglichkeit,
daß ein Sekretär bei der Abfassung der Briefe mitgestaltend
beteiligt gewesen sein könnte, nicht ausgeschlossen werden;
doch geistiger Urheber und verantwortlicher Autor der
Pastoralbriefe bleibt der Apostel Paulus allein (S. 199 f.).

Der Vf. ist sich zweifellos darüber im klaren, daß diese
von ihm so zäh verteidigte These auf starken Widerspruch
stoßen wird. Muß es doch nach wie vor mißlich erscheinen,
den großen Abstand, der die Pastoralbriefe von den paulinischen
Hauptbriefen trennt, allein mit Hilfe psychologischer
Erwägungen, die das fortgeschrittene Alter des
Apostels betreffen, begreiflich machen wollen. Wer jedoch
diesen Kommentar mit Gewinn benutzen will, sollte mit
dem Vf. nicht lange über diese Frage streiten, sondern sich
der Hilfe bedienen, die dieses an Material, Gedanken und
Anregungen reiche Werk bietet. Gründlich und sorgfältig
wird stets nach dem Wortsinn des Textes gefragt. Exakt
wird jeder Begriff auf seine Vorgeschichte hin untersucht
und dabei vor allem das kaum noch zu überschauende
Material ausgewertet, das in literarischen Werken, Inschriften
und Papyri das hellenistische Griechisch bezeugt. Der
Vf. kennt die Geschichte der Exegese von den Kirchenvätern
bis zu den modernen Autoren und zieht sie in
reichem Maße zu Rate. Die Auslegung ist von einer Reihe
weiterführender Exkurse zu einzelnen Problemen begleitet.
Mit Hilfe der Sach- und Wortregister, die am Ende des
zweiten Bandes stehen, kann man rasch die Ausführungen
zu einzelnen Begriffen und Vorstellungen auffinden. So
wird dieser gewichtige Kommentar, der sich erneut der
wissenschaftlichen Diskussion stellt, auch weiterhin seinen
Dienst tun. Er beweist schlüssig den Satz, daß die Pastoralbriefe
«un document capital du catholicisme naissant»
seien (S, 157). Doch der darauf folgende Nachsatz: «sans
que rien ne nous ait mis en garde contre une attribution
paulinienne» (ebda.) bleibt nach wie vor strittig.

Göttingen Ednnvrt Lolise

Theologische Literaturzeitung 9fi. Jahrgang 1971 Nr. 2