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Ausgabe:

1971

Spalte:

938-940

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kraus, Hans-Joachim

Titel/Untertitel:

Die biblische Theologie 1971

Rezensent:

Diem, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 12

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die das römische Reich der Kirche zu direkt und ausschließlich
als den providentiellen leiblichen Träger zuordnete
, gebrochen und fragwürdig gemacht hat (300) -
eine seit Alarichs Erstürmung Roms notwendige, dazu
grundsätzlich wichtige und aktuell weiterwirkende, theologische
Aufgabe (325). Wiederum hatte das Sichdistanzieren
von Rom ein Sichdistanzieren von der Welt überhaupt
und Abwertung des politischen Lebens als zweitrangig
zur Folge, was letztlich doch als „Versagen" seine
Charakterisierung findet; „denn die Frage .Christenheit
und Politik' war in der nachkonstantinischen Ära im Vergleich
zur Lage der frühen Christen konstitutiv neu gestellt
, so daß man hier weiter als Paulus hätte kommen
müssen, statt hinter ihn zurückzufallen" (817f.).

An der mittelalterlichen Geschichte „zweier Gewalten
(potestates, imperia, gladii, ordines) in einer
christlichen Welt" wird besonders die Enteschatologi-
sierung (354, 361) der Augustinischen civitates-Lehre gezeigt
, die zurüeklenkt zum Eusebianischen Modell einer
kompakten Zusammenordnung von Leib und Geist in
Gestalt bestimmter politischer Größen. Kompetenzscheidung
bzw. Nebenordnung zweier Gewalten oder
Unterordnung der einen unter die andere sind die beiden
Standpunkte, die gleichermaßen theologische Argumente
und biblische Stellen für sich geltend machen
(369ff.), eine dualistische und eine hierokratische Linie
(394f.). Den Schritt zur reformatorischen Entklerikali-
sierung der Kirche bereiten vor: Marsilius von Padua (419)
und Wilhelm von Ockham (413ff.). „Bei seinem Kampf
gegen die plenitudo potestatis papae in temporalibus
rückt Ockham besonders das Problem der Königsherrschaft
Christi in das Zentrum der Auseinandersetzungen.
Die Kuralisten leiteten nämlich aus der Königsherrschaft
Christi die Herrschaft auch seines Stellvertreters über alle
irdischen Mächte und Besitztümer ab. Ockham dagegen
betont im franziskanischen Sinn, daß Christi Reich nicht
von dieser Welt ist (Joh 18,36)" (420f., vgl. 427).

Trotz schwerster Gefährdung des Geistlichen hat die
Epoche des Mittelalters doch „ein unwiderrufliches Ergebnis
gegenüber der Situation in der Alten Kirche" gebracht
: „Die Christenheit kann ihr Verhältnis zur Welt
nicht mehr ausschließlich oder überwiegend als Distanz
bestimmen; denn sie selbst erfährt sich plötzlich als eine,
die das säkulare Leben gestalten muß ..." (428).

Luthers Absage an politische Macht für die Kirche
(485f.) entspricht nicht eine Umsohöherbewertung von
Macht und Gewalt für die politischen Stände und Herrschaftsorgane
(wie bei einseitigem Blick auf Luthers
Bauernkriegsschriften weltlich Regiment mit Waffengewalt
fast gleichgesetzt erscheinen kann, 495). Jedenfalls
für den Normalzustand ist für Luther die Vernunft bzw.
der ,gemeine Nutzen' das eigentliche Charakteristikum
des weltlichen Regimentes (495f., 499). Das gibt Luthers
Denken für das Politische mehr konstruktive als repressive
Züge (s. Luther zu Bildungsreformen für Schulen und
Universitäten in vielen Zusammenhängen) und definiert
die Augustinsche pax terrena material als justitia civilis
(statt formal-prinzipiell als Christusherrschaft bzw.
justitia dei, 506, 511). Auch Luthers Anknüpfen an natur-
rechtlichen Gedanken (ohne sich einer Systematik solcher
auszuliefern) sowie sein „reichlicher Gebrauch von
Spruchweisheit und Sprichwörtern überhaupt" (505, 562)
zeigen sein konstruktives wie rationales politisches Ethos.

Dieses Ethos kann nicht rein personal konstruiert werden
(wie begreiflicherweise aus neuzeitlichem Erschrek-
ken vor .Eigengesetzlichkeiten' der .Ordnungen' versucht
wurde, 535, 582), sondern schließt notwendig eine
institutionelle Komponente in sich. Werk, Amt und Ordnungen
werden nicht durch eine gute Person gut, „sondern
die gute Person erweist ihre Güte - die sie aus dem
Gottesverhältnis empfängt - gegenüber dem Werk darin,

daß sie sich ,werk-gerecht', d.h. dem Amt und dessen
Intention angemessen verhält" (529). So unterstreicht
Duchrows Luthersicht eine gewisse objektive Sinnhaftig-
keit der Institution und den Faktor der Veruunft beim
Gebrauch dieser. Doch verlangt auch Duchrow „kritische
Durchleuchtung der Institutionen selbst von der
(im Glauben befreiten) Vernunft her" (584). - Der Begriff
der Liebe, konkret besonders als .Billigkeit' (an sich aristotelische
politische Klugheit) die Formalgerechtigkeit
begrenzend, bleibt dadurch als oberstes Prinzip gerechtfertigt
, daß die Institution dem Nächsten und dem .gemeinen
Nutzen' zu dienen hat. Das Denken an den anderen
erscheint zugleich als der Ort, an dem der Rechtsverzicht
, den man für sich selbst bejahen muß, seine
Grenze finden kann (525), so sehr von Luther „auch den
Fürsten in ihrem Amt weitestmöglicher Rechtsverzicht
als vernünftiges Mittel zum Frieden empfohlen wird"
(549). - Ein bei Luther aufweisbares Verständnis der
Bergpredigt, welches ihre spruchweisheitlichen Komponenten
mit gelten läßt, hat ihn davor bewahrt, diese
ganz der privaten Sphäre anheim zu geben und alsdann
mit der Unterscheidung zweier gesellschaftlicher Wirklichkeitszonen
eine sog. doppelte Moral sich verfestigen
zu lassen. „Vor allem durch die Goldene Regel kann
Luther in allen Fällen deutlich machen, daß das Handeln
der Liebe das vernünftigste ist" (S.550f.).

Außer dem Problem des generell für menschliches Zusammenleben
nicht prinzipiell auszuschließenden Rechtsverzichtes
(besonders wenn Selbsthilfe mehr Schaden als
Nutzen hinterläßt, s. das häufige Bild Luthers .den
Löffel aufheben und dabei die Schüssel zertreten', 499),
dem indes die Aufforderung zum Rechtsbekenntnis mit
dem Wort etwas Aktives zurückgibt (546, 552), erscheint
als wichtigste Aktualität der Problematik Luthers die
Analogie zwischen der damaligen Reichsrechtsreform
(1495), die die Fehde uutersagte (was es ideell zu unterstützen
galt, 533), und den heute besonders durch von
Weizsäcker (.Bedingungen des Friedens') angeschnittenen
Fragen. Als Resume des lehrreichen Studierwerkes mag
die Forderung genannt sein, daß „Theologie und Kirchen
mit der Aufgabe konfrontiert werden, das Verhältnis von
Bergpredigt und der wieder plastisch gewordenen Vernunft
nou zu durchdenken" (590).

Berlin Hans-Georg Fritzscho

Kraus, Hans-Joachim: Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte
und Problematik. Neukirchen-Vluyn: Neu-
kirchener Verlag des Erziehungsvercins [1970], XIII,
407 S. gr. 8°. Lw. DM 44,—.

Bereits ein Jahr nach der überarbeiteten und erweiterten
2. Auflage seiner „Geschichte der historisch-kritischen
Erforschung des Alten Testamentes" von 1956 legt Kraus
diese „Biblische Theologie" vor. Sie beginnt wie die vorausgehenden
Bände wieder mit den „Anfängen" in der
Reformation und enthält zunächst weithin nachholende
Erwägungen zur Geschichte der kritischen Erforschung
des AT unter Erweiterung des Materials. Neben den unvermeidlichen
Wiederholungen tritt aber jetzt zu dem
sola scriptura als zentraler Gesichtspunkt das tota
scriptura. Gewiß hat die Frage nach der Einheit der
Schrift die alttestamentliche Forschung in ihrer ganzen
Geschichte bewegt, auch da, wo diese Frage vorwiegend
negativ beantwortet wurde. Aber über diese Frage nach
dem Zusammenhang von AT und NT hinaus will Kraus
das Desiderium einer die ganze Schrift umfassenden
„Biblischen Theologie" aufnehmen, im Anschluß an die
vorsichtig formulierten Ergebnisse von Gerhard von