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Ausgabe:

1971

Spalte:

910-912

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vögtle, Anton

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos 1971

Rezensent:

Fischer, Karl Martin

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909

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 12

910

in den eigenen Verstehenszusammenhang zu achten habe.
Für Paulus mit seiner Thematik „Fleisch und Geist"
zeigt B., daß er entscheidend aus dem hellenistischjüdischen
Sprachkontext zu verstehen ist, den B. „dualistische
Weisheit" nennt. Den Begriff „Gnosis" reserviert
B. für radikal akosmische Heilsentwürfe innerhalb des
breiteren Kontextes „spätantiker Mystik und jüdischdualistischer
Weisheit" (22) und setzt sich für eine Rückgewinnung
des Begriffs Mystik für diesen Bereich und für
Paulus ein. B. setzt an die Stelle des alten Schemas der
„gnostischen Einflüsse" keineswegs einfach ein neues
Schema; vielmehr versteht er unter „dualistischer Weisheit
" einen vielgestaltigen Kosmos von individuellen
Konzeptionen, dessen innere Einheit und Abgrenzung
nach außen recht mühsam zu suchen ist. Nach Ansicht
des Rezensenten kann B. seine These nicht verifizieren,
daß es sich im Falle von „Fleisch und Geist" um eine
sprachlich feste, sich durchhaltende und ein Motivfeld
sammelnde Antithese handele. Durchweg erweist sich die
Terminologie vielmehr als variabel, auch bei Paulus. Auch
haben „Geist" und „Fleisch" je ihr eigenes Sprachfeld.
Sachlich ist jedoch B. auf einer sehr guten Spur. Seine
stark textorientierte Untersuchung zeigt eindrucksvoll
auf, wie in und mit einer verwirrend variierenden Terminologie
sich durchweg ein eigentümlicher, dualistischer
Umschlag abzeichnet, nicht im Wege von Einflüssen und
Abhängigkeiten, sondern aus dem Aufbrechen eines neuen
Daseinsverständnisses, das in den verschiedensten religiösen
Traditionen der Zeit zu einer dualistischen Neu-
ausprägung führt. Die enorme Mannigfaltigkeit des Umfeldes
des urchristlichen Denkens versteht B. eingehend
darzustellen. Schon das ist verdienstvoll.

In der Apokalyptik zeigt B. ganz verschiedene anthro-
pologisch-kosmologische Heilsentwürfe auf (60-85). Der
Trend in Richtung des neuen Anliegens „eines postmortalen
Weiterlebens" (59) lebt primär aus der Hoffnung
auf den Sieg der Gerechtigkeit Gottes (64.68f.75.
77f.), nicht aus einer Aufnahme fremder Unsterblichkeitskonzeptionen
. Der Umschlag ins Dualistische wird
durchweg als innerjüdisches Phänomen plausibel. B. vermittelt
wichtige Einblicke in das Werden der Auferstehungsvorstellung
. Die Nähe zu Paulus ist oft frappierend
.

Vielgestaltig ist in sich ein Dokument wie Sapientia
Salomonis, und gerade der dualistische Umschlag ist auf
diese Weise greifbar. Der Vf. ordnet die optimistisch entworfene
, im Grunde vordualistische Einwohnungs-So-
teriologie (Kap. 6-9) in seine dualistische Konzeption ein,
die besonders Kap. 2-5 ausgeführt wird (die Gerechten
sterben nur zum Schein, sind in ihrem Geist selbst unsterblich
).

In Qumran sind verschiedene Spielarten eines neuen
soteriologischen Dualismus wichtig: Die Geister der Menschen
werden etwa protologisch geschieden gedacht, so
daß die Geister der Gerechten zum Heil prädestiniert
erscheinen (89f.). Anderswo kann jedem Menschen göttliche
Geistmacht zugesprochen werden, mit der der
Schöpfer dem in sich zum Guten unfähigen Geschöpf zu
Hilfe kommt (92f.). Diese Geistkraft kann durch die
Sünde zu Fall gebracht werden (94f.), andererseits ist
Reinigung des Fleisches durch heiligen Geist möglich (96).
Eine schroffe Antithese wird nicht in der Terminologie
Fleisch-Geist gebildet, wohl aber im Zuge der Zwei-
Geister-Lehre, die in den zwölf Testamenten noch verschärft
belegt ist (96-99). Die kreatürliche Nichtigkeit
des Menschen „ist mit ein Grund für das Erbarmen Gottes
" (100), doch wer sich dem Frevel zuwendet, verfällt
der Süudenmacht (101). Vereinzelt wird die Heilsvollendung
schon als „Erhöhung aus der Fleischessphäre"
entworfen (102-106).

In dem Philon gewidmeten Teil zeigt B. zunächst

grundsätzlich, dann an Einzeltexten auf, daß Plülou
jüdisch zu deuten ist, vor allem, daß und wie Philon
in wesentlichen Elementen seiner dualistischen Soterio-
logie von einer jüdisch-weisheitlichen Konzeption geleitet
und gerade so auch Paulus nah verwandt ist. Seine
Pneumatexte nehmen hellenistische Terminologie auf
(Leisegang), aber im Dienste der Neufassung des Prophetischen
in der Gestalt des weisheitlichen, vom Weis-
heitspneuma erfüllten Propheten, und der von daher entworfenen
, dualistischen Soteriologie (123-140). Immer
wieder wird eine dualistische Umformung älterer, monistischer
Konzeptionen erkennbar. Die philonische Antithese
sarx-pneuma bzw. allgemein der Gegensatz von
menschlicher Niedrigkeit und der Hoheit und Macht des
Göttlichen weist traditionsgeschichtlich auf die weisheitliche
Skepsis und ihre Überwindung durch eine weisheitliche
Einwohnungs-Soteriologie zurück (140-154). Die
Gefangenschaft der Seele bzw. des Geistes im Körper und
Heil als Auszug und Aufstieg sind hellenistische Gedanken
; ebenso auch die Prolepse des heil vollen Auszugs
jetzt im Vollzug der Entfremdung von der körperlichsinnlichen
Sphäre. Aber der befreite Menschengeist ist
bei Philon „nicht die selbstmächtige rationale Geistigkeit
, sondern das durch die jenseitige Pneumasubstanz
charismatisch befähigte, eigentliche Ich des Menschen"
(157). Eine Umformung des im Judentum beliebten Zwei-
Wege-Motivs sieht B. in der Konfrontation zweier „dualistischer
Menschenklassen" (188-196). Weisheitspneuma
einerseits, der Bereich des Körperlichen (198) andererseits
werden als Gewand und umschließender Raum in ihrer
sphärischen Machthaftigkeit zur Sprache gebracht im
Anschluß an ältere, zunächst vordualistische, jüdische
Weisheitsaussagen (197-216). Heilvolles „Töten" der
sarx, des soma, des alten Menschen kennt Philon aus einer
nur noch wenig greifbaren, ebenfalls weisheitlichen Tradition
(216-221).

Es ist B. gelungen, die jüdische Umwelt des Paulus
als eine lebendige Größe sui generis sichtbar zu machen,
die bei dem eigentümlichen Aufbruch in Richtung Gnosis
eine aktive, gewichtige Rolle spielt, in vieler Hinsicht
Paulus verwandt und in sich äußerst vielgestaltig ist,
ohne daß es an innerem Zusammenhang und Abgrenzung
zum heidnischen Hellenismus und zum Urchristentum
hin fehlte. B. hat damit zur Gesamtorientierung der Erforschung
der Umwelt des Urchristentums und zu neuer
Interpretation vieler umkämpfter Einzelphänomene einen
hilfreichen Beitrag geleistet.

München Harold Hegermann

Vögtle, Anton: Dag Neue Testament und die Zukunft des
Kosmos. Düsseldorf: Patmos-Verlag [1970]. 259 S.
gr. 8° = Kommentare und Beiträge zum Alten u.
Neuen Testament. Lw. DM 36,—.

In außerordentlich gründlicher Einzelexegese versucht
V. nachzuweisen, daß im Neuen Testament wohl verschiedene
Vorstellungen von der Zukunft der Welt (Weltuntergang
, Verwandlung, Vollendung usw.) vorliegen,
daß aber kein einziger Text diese Vorstellungen als Lehraussage
vorträgt. Wo es dennoch so scheint - und V.
untersucht wirklich jeden in Frage kommenden Text
mit äußerster Akribie - so sind die kosmisch klingenden
Aussagen nur als Metaphern oder als Argumente für eine
ganz andere Aussage gebraucht. Das verdichtet sich dann
zu der These, daß im Neuen Testament keine verbindliche
Lehraussage über die Zukunft der Welt gemacht
werde, ein unmittelbarer lehrhafter Zusammenhang
zwischen Christologie und kosmischer Zukunft nicht bestehe
und darum die Fragen nach der Zukunft der Welt
getrost den Naturwissenschaftlern zur Beantwortung