Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1971

Spalte:

859-860

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Holtz, Gottfried

Titel/Untertitel:

Die Parochie 1971

Rezensent:

Mendt, Dietrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

859

Theologische Litcraturzcitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 11

860

auch auf die wichtigsten Spezialpfarrämter vermissen licfj.
Es bleibt weithin der Initiative des einzelnen Theologen
überlassen, sich hier durch ein Zweitstudium oder autodidaktisch
die entsprechende Vorbildung zu verschaffen. Sodann
wird aus dem Buch erkennbar, wie stark bestimmte
Sonderpfarrämter auf die Gesellschaftsordnung in der BRD
bezogen sind. So versieht der Pfarrer im Strafvollzug seinen
gewifj nicht einfachen Dienst auf dem Hintergrund einer
Gesellschaft, in der Menschen, die mit den Gesetzen in
Konflikt gekommen sind, durch die Schlagzeilen der Boulc-
vardpresse oft als „Bestien in Menschengestalt", „Sittenstrolche
" und „Ungeheuer" (S. 159) bezeichnet werden. —
Es heften sich noch andere Beispiele aus fast jedem der
Beiträge nennen, die allesamt nur verdeutlichen, wie die
jeweilige Gesellschaftsordnung auch das Wirken der Kirche
und ihrer Amtsträger mitbestimmt.

Insgesamt haben wir es mit einem Sammelband zu tun,
der informieren will, da ein Wissen um die Fragen und
Probleme der Spezialpfarrämter nicht bei jedem „Pfarrer
mit Ortsgemeinde" vorausgesetzt werden kann. Dafj dabei
Hinweise u. a. auf den „Landesposaunenpfarrer", den
„Artistenpfarrer", wie wir sie in den Kirchen der DDR
kennen, fehlen, mindert nicht den Wert dieses Buches, sondern
zeigt nur, wie ein solches Nachschlagewerk zur Orientierung
über die Vielfalt der Berufsmöglichkeiten für
Theologen innerhalb der Kirche immer wieder der Ergänzung
und Überarbeitung bedarf, wenn es zeit- und situ-
ationsbezogen bleiben will.

Leipzig Gottfried Kretzschmar

Holtz, Gottfried: Die Parochie. Geschichte und Problematik
. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1971. 68 S. 8".
M 3,20.

Diese Schrift, zuerst erschienen in der „Handbücherci
für Gemeindearbeit" im Gütersloher Verlagshaus Gerd
Mohn o. J., gehört in den Rahmen der derzeitigen Bemühungen
aller evangelischen Kirchen um Strukturveränderungen
. Sie füllt eine ganz wesentliche Lücke, und den
Literaturangaben merkt man an, welche Mühe es gemacht
hat, das entsprechende Material zu finden und zusammenzustellen
. Die heutigen Fragestellungen haben in der Kirchengeschichte
so gut wie nicht interessiert und sind deshalb
auch nicht beachtet worden. Auf der anderen Seite
wird bei der Lektüre dieser Schrift Praktikern des Gemeindeaufbaus
heute deutlich werden, dafj sie bei der Beurteilung
der Ortsgemeinde heute von der geschichtlichen
Entwicklung nicht absehen und neue Wege nicht abseits
der Kontinuität geschichtlicher Zusammenhänge gehen
können. H. erklärt dies in dem Schlufjkapitel „Entwicklung
, Fragen und Antworten des 19. und 20. Jahrhunderts"
zu einem der wesentlichsten Ergebnisse seiner Forschungen
(besonders S. 53 ff.). H. zeichnet den Weg der neutesta-
mentlichen paroikia zur bischöflichen und presbyterialcn
Gemeinde, die neben die bischöfliche Diözese die Parochie
stellt und im Laufe der Jahrhunderte zur Form unsrer
heutigen Ortsgemeinde geführt hat. Erstaunlich ist, wie
sich diese Gestalt, die vom Wohnort des einzelnen Christen
ausgeht und vom Gedanken seiner Versorgung, nicht nur
der Gestalt nach, sondern zum Teil sogar in den alten Par-
ochialgrenzen über tausend Jahre hinweg gehalten hat.
Weder die Mission der iroschottischen Mönche noch der
Einbruch der großen mittelalterlichen Orden hat daran
auf die Dauer etwas ändern können. In den evangelischen
Kirchen bringen erst die Werke des 19. Jahrhunderts, allen
voran die Innere Mission und Wichern, eine Auflockerung
des Parochialzwanges und neue Möglichkeiten übergemeindlicher
Arbeit, die für die Aufgabe der Kirche in
den letzten Jahrzehnten geradezu entscheidend geworden
sind. Die Umfunktionierung des Begriffes „Parochie" von
dem neutestamentlichen der „Fremdlingschaft", in der Diaspora
nämlich, zur „Körperschaft", innerhalb des Corpus
Christianum, findet sich in einem Zitat des Kirchenvaters
Eusebius. Dabei wird später an den Hugenottengemeinden
deutlich, daß echte „Fremdlings-Gemeinden" auch sofort
Kraft zu neuem missionarischen Wirken finden. Mir
scheint, dafj man bei weiteren Forschungen ein paar Gesichtspunkte
beachten und stärker herausarbeiten müßte,
die bei H. fehlen. Ist es Zufall, dafj gerade Eusebius dem
Begriff „Parochie" eine neue Bedeutung gibt? Oder ist nicht
die Gestalt der Parochie, so wie sie von H. geschildert
wird, geradezu die Idealgcstalt kirchlicher Arbeit im Konstantinischen
Zeitalter, auf alle Fälle seit Theodosius 381?
Zu dieser Zeit trafen drei Gesichtspunkte zu als Voraussetzungen
jeder Mission: 1. es ging nicht um Einzel-, sondern
um Massenbekehrung (mit Ausnahme der Arbeit der
Iroschotten) j 2. es ging mehr oder weniger um Taufzwang
(S. 14 und öfter); 3. der Wohnort eines Menschen deckte
sich mit seinem gesamten Lebensraum; weder zur Arbeit
noch zur Freizeit verlieft der Mensch diesen Raum. Es
war also eine Gestalt von Kirche nötig, die am Ort war,
sichtbare Gestalt hatte („zu sehen war") in Gebäude
und Parochus und zu der jeder ohne Schwierigkeit hingehen
und sich versorgen lassen konnte. In Abwandlung
eines Zitates von Bischof Dr. Werner Krusche könnte man
von „Versorgung als Strukturprinzip" im Gegensatz zu
„Mission als Strukturprinzip" sprechen. „Mission als Strukturprinzip
" wäre damals sachlich falsch gewesen. Im Corpus
Christianum als einem geschlossenen christlichen VoLks-
und Gesellschaftskörpcr ging es um Ordnung und Versorgung
, nicht mehr um Mission. Gerade da aber wird deutlich
, welchen Schwächen die Parochie heute unterworfen
ist, denn alle drei Gesichtspunkte treffen für die Gegenwart
nicht mehr zu, wobei es gleichgültig ist, ob man diese
Entwicklung — wie viele — begrüftt oder bedauert. Von
daher könnte man vielleicht ein wenig mehr Verständnis
für die Bitterkeit Hoekendijks gewinnen, auch wenn man
seinen sachlichen Schlußfolgerungen nicht überall zu folgen
vermag (S. 53 f.). Und von daher müßte man sich in der
kritischen Betrachtung der Parochie mehr Freiheit nehmen,
als H. sie sich nimmt. Aber dies sind Gedanken, die in
keiner Weise seinen Dank schmälern sollen, zu dem man H.
gerade in dieser Zeit für seine kleine, aber inhaltsschwere
Schrift verpflichtet ist.

Karl-Marx-Stadt Dietrich Mendt

Interview, Das theologische, 2: Franz Joseph Schicrse antwortet
Gerhard Dautzcnberg: Was hat die Kirche mit
Jesus zu tun? Zur gegenwärtigen Problcmlage biblischer
Exegese und kirchlicher Verkündigung. Düsseldorf: Pat-
mos Verlag (1970), 91 S. 8".

Das Heft gehört zu einer neuen Art theologischer Publikation
, die dem Fachgelehrten überraschend und fragwürdig
erscheinen mag: Theologie vermittelt in der Form des
Interviews. Dabei werden nicht einfach profilierte Theologen
.publik gemacht' (dazu bietet der Einband Photos der
Gesprächspartner und kurze Angaben über ihren Werdegang
und ihre Veröffentlichungen), sondern es wird eine
Art theologia publica entwickelt; der Theologe wird nicht
nur als Fachmann angefordert, sondern als einer, der mit
seiner Sache Verantwortung für das Wohl nicht nur der
kirchlichen Öffentlichkeit, sondern der Gcamtgcsellschaft
trägt. Zu dieser Verantwortung soll der Leser herausgefordert
werden. So läßt sich die Absicht der Reihe umschreiben
, wenn man Heft 10 (Ingo Hermann antwortet Kar'"
Dieter Ulke: Die unerwünschten Aufklärer. Die Intellektuellen
und die Kirche. Düsseldorf 1970, 65 S.) und Heft 12
(Walter Dirks antwortet Werner Post: Kirche und Öffentlichkeit
. Möglichkeiten der Kommunikation, Düsseldorf
1970, 70 S.) als Einführung in die Problematik, der sich die