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Ausgabe:

1971

Spalte:

852-853

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schneider, Gerhard

Titel/Untertitel:

Gott, das Nichtandere 1971

Rezensent:

Grabs, Rudolf

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851

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 11

852

„äußeren Zweck" aus wie das positiv wirksame Handeln;
beide werden unter dem wirksamen Handeln befaßt. Wenn
das wirksame Handeln das Handeln der streitenden Kirche
ist, d. h. der Kirche, „welche in Gegensatz gegen die
Welt gesetzt ist", und das darstellende Handeln das Handeln
der triumphierenden Kirche, d. h. der Kirche, „welche
rein die Gemeinschaft mit Gott ausdrückt", wenn dieses
auf die Seligkeit, die „Freude an Christo" sich bezieht, also
bloß von der „Idee des gemeinschaftlichen Lebens" abhängt
(wogegen M. behauptet, daß jede sittliche Handlung immer
auf ein Anderswerden des Äußeren gerichtet ist [72]), jenes
aber von einem Mangel ausgeht und eine Veränderung
hervorbringen will, so dürfte es einige Schwierigkeiten machen
, diese für die christliche Sittenlehre grundlegende Dichotomie
mit M.s Dreiteilung in Parallele zu setzen. [M.s
Dreiteilung läßt sich allenfalls mit einer untergeordneten
Dreiteilung vergleichen, die Schi, im 2. Teil der Gesinnungsbildung
verwendet und als deren Quelle er nicht die Dialektik
, sondern die Anthropologie angibt: der Unterscheidung
von Denkungsart (Schule: Lehren und Lernen), Handlungsweise
(Sitte: Gebieten und Gehorchen) und Empfindungsweise
(Gemeindeversammlung: Ausströmen und Aufnehmen
)].

Indem M. das künstlerische Denken wegfallen läßt, bietet
freilich auch er eine Dichotomie. Nach M. „liegt das
schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl oder die Frömmigkeit
an sich in dem Übergang vom abbildlichen zum vorbildlichen
Denken" (128). Schi, macht in der Glaubenslehre
das Tun zwar nicht zu einer bloßen Art des Denkens, läßt
aber das unmittelbare Selbstbewußtsein den Übergang vermitteln
zwischen Momenten, worin das Wissen, und solchen
, worin das Tun vorherrscht (7 § 3,4). Neben der Bewegung
vom Wissen zum Tun (bzw. vom Tun zum Wissen!)
gibt es aber, was M. (außer vielleicht auf S. 86 f.) zuwenig
berücksichtigt, eine Bewegung, die von einer Bestimmtheit
des unmittelbaren Selbstbewußtseins gleichermaßen in ein
Tun wie in ein Wissen sich „ergießt". Wenn die Frömmigkeit
nicht die Quelle, sondern nur die „letzte Synthesis"
von Wissen und Tun wäre und den „Übergang" lediglich
„mitkonstituiert" (128, 13112), könnte keine Frömmigkeit
entstehen, solange ihr kein Wissen oder Tun vorgegeben
ist. Die Frömmigkeit, die weder ein Wissen (für M. verhält
sich der einzelne, der sich den Einwirkungen Jesu erschließt
, „in der Weise des abbildlichen Denkens" [III])
noch ein Tun (M. behauptet: „Die Frömmigkeit an sich hat
der Mensch aber nicht, sondern nur an den Anfängen des
vorbildlichen Denkens" [69]) ist, liegt vor dem „Übergang"
zum Wissen wie zum Tun. Das ursprüngliche Bewußtsein
ist die „Indifferenz in der Richtung" auf Wissen und Tun
(meine Ausg. des christl. Lebens, A 5). Diesen Ort der Indifferenz
, an dem der Mensch seinem Tun und Wissen entzogen
ist, gewinnt Schi, durch die Auslegung von J 1, 35 ff.:
„Der Gedanke war der: Wir haben den Messias gefunden,
die Handlung, daß sie sich mit dem in Verbindung setzten.
Das Ursprüngliche, woraus beides hervorging, war der Eindruck
der Göttlichkeit des Erlösers" (ibid.). Die ursprüngliche
„Tendenz", auf die Schi, die Frömmigkeit deutet,
kommt, sofern sie sich in einem Tun äußert, aus keinem
„abbildlichen Denken", sondern entspricht dem „göttlichen
Willen", und kommt, sofern sie sich in einem Denken äußert
, aus keinem sittlichen Tun, sondern entspricht der
Epiphanie des Offenbarers.

In Analogie zu der reinen „Selbstbewegung von dem
Ende des abbildlichen Denkens auf den Anfang des vorbildlichen
Denkens hin ... ist Gott als reine übergehende
Tätigkeit die Identität von Potentialität und Aktualität,
d. h. Ursächlichkeit" (171). Die Unterscheidung, die M. hier
zur Identität bringt, ist eine nichtige: „Ein Unterschied
zwischen Können und Wollen ist... in Gott ebensowenig,
wie der zwischen wirklich und möglich" (GL 7 § 54,3).

M. zeigt eine Vorliebe für zu anspruchsvolle Begriffe,

wenn er beispielsweise meint: „das Reich Gottes und folglich
dessen sittliche Aufgabe hat keine räumliche Dimension,
sondern lediglich eine zeitliche. Demgegenüber ist der Ort
des Staates primär als ein räumlicher und nur sekundär
als ein zeitlicher zu verstehen" (202). Das ist eine abstrakte
Bestimmung, die nicht als Beitrag zur Schl.-Forschung angesehen
werden kann.

Was M.s Titel betrifft, so läßt sich die Glaubenslehre
den Begriff „Übergang" nicht überall von der Parmenides-
Übersetzung (32 f.) her festlegen. Wenn die Erlösung bestimmt
wird als „Übergang aus einem schlechten Zustande,
der als Gebundenheit vorgestellt wird, in einen bessern",
ist der Sünde keine Identität mit der Gnade gewährt und
„Übergang" nicht im identitätsphilosophischen Sinne verstanden
(46, 132, 145). Identität läßt sich zwischen dem Denken
und Wollen nur stiften, weil beide gleich ursprünglich
sind oder, genauer gesagt, in gleicher Entfernung vom Ursprünglichen
stehen, eine Bedingung, der nicht alle bei M.
auftauchenden Gegensatzpaare genügen.

Berlin Hermann Peiter

Schneider, Gerhard: Gott — das Nichtandere. Untersuchungen
zum metaphysischen Grunde bei Nikolaus von Kues.
Münster/W.: Aschendorff [1970]. VIII, 181 S. gr. 8" =
Buchreihe der Cusanus-Gesellschaft, hrsg. v. R. Haubst,
E. Meuthen u. J. Stallmach, IV. Kart. DM 30,—.
Die Herausgabe dieser Arbeit ist dankenswert. Was sie
nicht zu wenigst auszeichnet, ist die gute Lesbarkeit. Angesichts
einer heute nicht seltenen theologischen Blickverengung
im Sinne rein diesseitiger Problemstellungen bedeutet
die Beschäftigung mit Cusanus einen Gewinn in entgegengesetzter
Richtung. Das verdeutlicht besonders der erste
Teil dieser Schrift, in dem „die grundlegenden Lehren der
Cusanischen Metaphysik" aufgezeigt werden. Wer gegenüber
einer nur allzu selbstverständlich gewordenen Metaphysikferne
geneigt bleibt, den Grenzbereich der völlig anderen
Seinserfassung zu betreten, findet in dieser Schrift
mancherlei Hilfe.

Es ist beglückend, in dem spätmittelalterlichen Denker
Nikolaus von Kues einen Helfer zu finden, um von der
docta ignorantia, dem Wissen unseres Nichtwissens aus in
unablässiger „Jagd nach Weisheit" (Cusanus) zur Gotteserkenntnis
des „non aliud" zu gelangen. Wer Cusanus zu betont
nur unter dem Begriffswort der coincidentia opposi-
torum kennt, gelangt nicht zu einem vollen Verständnis.

Die Erläuterung der „Lehre vom Nichtanderen" bildet —
genau abgewogen — die Hälfte der Arbeit. Der Begriff des
Nichtanderen ist vor einer falschen Modernisierung zu bewahren
. Dieses Bestreben tritt bereits im Vorwort des Buches
zutage, wenn gesagt wird, daß das Sprechen von Gott
als dem „ganz Anderen" scheinbar unserer Zeit vertraut
sei. Die Abwehr des Irrtums wird vor allem erhärtet durch
den Hinweis, Cusanus könne keineswegs als Dialektiker
im heutigen Sprachgebrauch gedeutet werden. Seine Denkmethode
, sein „Arbeitsvorgehen" ziele auf eine positive in-
haltliche Bestimmtheit.

Der Verfasser bringt eine Aussage, die wie wenige dazu
dienen kann, die Eigenart des Cusanischen Wesens und
Denkens zu verstehen: „Seine Schriften verfaßte Nikolaus
von Kues meist als Entwürfe intuitiver philosophischer
Reflexion in essayistischer Gestalt oder als Dialoge, in denen
er selbst im Gespräch mit Männern aus seiner Umgebung
die Probleme anging, die ihn beschäftigten. Wie lange
er sie bereits meditativ umkreisend durchdacht hatte, ist
im einzelnen schwer zu sagen. Doch dürfte seine .Gedankentätigkeit
... nie geruht haben'." (S. 13.) (Die letzte Wendung
am Schlüsse der Anführung ist dem Alterswerk von
Karl Jaspers und Cusanus (S. 20) entnommen. Das UmstrH'
tensein gerade dieses Buches von Jaspers ist dabei nicht
außer acht zu lassen.)