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Ausgabe:

1971

Spalte:

818-821

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Das Neue Testament als Kanon 1971

Rezensent:

Wilckens, Ulrich

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 11

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zu überwinden und die moderne Theologie mit dem Bibelstudium
zu verbinden.

°er Vf. gliedert sein Buch in drei große Teile, die jeweils
vier Kapitel umfassen. Im 1. Teil - „Remenbering a
Past" — gibt er einen Überblick über Beginn und Entwicklung
der Bewegung und die Ursachen ihres schließlichen
Scheiterns. Im 2. Kapitel werden die charakteristischen
Merkmale der Bewegung beschrieben: Die Wiederentdek-
kung der theologischen Dimension der Bibel und im Zusammenhang
damit der Versuch, den Graben zwischen
historischer und systematischer Theologe zu überwinden,
die Betonung der grundsätzlichen Einheit von Altem und
Neuem Testament, die Überzeugung, daß „Offenbarung"
durch Geschichte „vermittelt" wird, die Hervorhebung einer
bestimmten biblischen (= hebräischen) Mentalität und
schließlich die Betonung des Gegensatzes zwischen der Bibel
und den gleichzeitigen außcrbiblischen Dokumenten.
D'is 3. Kapitel befaßt sich mit den ungelösten Problemen,
die schliefjlich zu dem im 4. Kapitel geschilderten Scheitern
der Bewegung geführt haben. Zu diesen ungelösten Problemen
gehören vor allem die Fragen nach der Begründung
biblischer Autorität, nach der sachgemäßen Beziehung zwischen
Altem und Neuem Testament und nach dem Verhält-
n's zwischen „Offenbarung" und „Geschichte". Das Insistieren
auf eine bestimmt biblische Mentalität, in der allein
sachgemäß über Glaubensfragen gedacht und gelehrt werden
kann, und die Betonung der Einzigartigkeit der Bibel
9e9enüber ihrer Umwelt waren weitere Punkte, die zu
einem Zusammenbruch der Bewegung geführt haben. Zu
diesen innertheologischen Problemen kam dann noch die
Konfrontation mit einer säkularisierten Umwelt, der die
Sprache der Bibel fremd war, und mit den sozialen Problemen
der Gegenwart, die das Interesse auch weiterer
christlicher Kreise auf die soziale Aktion hin verlagerte:
-The breakdown (sc. i of the movement) resulted from pressure
from inside and outside the movement that brought
•t to a Virtual end as a major force in American theology
In the early sixtis" (S. 87).

Nach dieser Situationsanalysc entwickelt der Vf. im 2.
ie'l seines Buches unter der Überschrift „Seeking a Future"
seine eigenen Vorstellungen von Notwendigkeit und Gestalt
einer „Neuen biblischen Theologie". Denn es geht
n"cht darum: „Biblical Theology or not, but rather what
k'nd of Biblical Theology" (S. 95). Folgende Gesichtspunkte
jausen nach der Auffassung des Vf. für eine solche „Neue

'blische Theologie" bestimmend sein: Die Bibelwissen-

cnaft soll sich nicht auf eine historisch-deskriptive Aufgabe
beschränken und die theologischen Schlußfolgerungen
anderen Disziplinen oder gar dem Einzelnen überlassen i
"Constructive use of the material of the separate Biblical
"'seiplines must be donc first by a Biblical scholar" (S. 93).

er Unterschied zwischen historischer und systematischer
eologic so" damit nicht aufgehoben werden, beide Beuche
müssen jedoch ineinander übergreifen („overlap").
cn das Gespräch zwischen wissenschaftlicher Theologie

"d Gemeinde sollte sich in einer „Rückkopplung" der Erfahrungen
des Pfarrers in der Konfrontation mit der Welt
gUr •• Universitätstheologie" auswirken (S. 96), da allein
' solche Weise jene „Neue Biblische Theologie" der Ge-
inde eine Orientierung bei den von ihr geforderten so-

a ethischen Entscheidungen geben kann. Vor allem aber
jjjj es, den Kanon der gesamten Bibel als „Kontext" für
sachgemäße Verständnis der einzelnen biblischen Aus-
zu crnst zu nehmen: Die Zuordnung beide Testamente
-^einander schafft einen anderen theologischen „Kontext",
sich^011" ~ W'e ^'es bisher nieist geschieht — jedes für
Zum a"°'n betrachtet wird. Hier — in diesen Erwägungen
dürft "Pr°bIern des Kontextes" (v9'- s- 97 ff- und S. 109 ff.) -
ne ° t'i,nn aucn der eigentliche Beitrag des Vf.s zu einer
sein^v Arl" sach9elTla6er „Biblischer Theologie" zu sehen
• v°n hier aus erklären sich dann freilich auch zugleich

seine Vorbehalte gegenüber der „historisch-kritischen" Methode
(vgl. bes. S. 139 ff.): Gewiß ist sie notwendig für die
Herausarbeitung der historschen Fakten, die theologische
Aufgabe der Exegese vermag sie jedoch nicht wahrzunehmen
— ebensowenig wie sie ausreicht, die Bibel als „Buch
der Kirche" („Scriptures of the Church") zu lesen (S. 141).

Im 3. Teil seines Buches — überschrieben „Testing a Me-
thod" - versucht der Vf. schließlich, die von ihm aufgezeigten
Wege zu einer „Neuen Biblischen Theologie" an einigen
Beispielen zu verdeutlichen: Als fruchtbare Methode, einen
biblischen Text zunächst in seinem ursprünglichen Zusammenhang
zu verstehen und darüber hinaus den Gesamtkanon
als „Kontext" ernst zu nehmen, schlägt er vor, der Verwendung
bestimmter alttestamentlicher Stellen im Neuen
Testament nachzugehen und dabei die veränderte Funktion
und Bedeutung aufzuzeigen, die sie jeweils innerhalb
eines anderen „Kontextes" erhalten. In diesem Sinne werden
im einzelnen folgende Themen erörtert: „Psalm 8 in
the Context of the Christian Canon", „Moses' Slaying in the
Theology of the Two Testaments" (Ex 2,11—22) und „Proverbs
, Chapter 7, and a Biblical Approach to Sex". Den Abschluß
des 3. Teils bildet ein in sich geschlossener Essay
„The God of Israel and the Church", in dem der Vf. seine
„Kontext-Methode" am Beispiel des biblischen Gottesverständnisses
illustriert und zugleich Schlußfolgerungen hinsichtlich
einer sachgemäßen Zueinanderordnung von Altem
und Neuem Testament formuliert (S. 216—219).

Aufs Ganze gesehen, ist deutlich, daß es dem Vf. in seinem
Buch um nicht weniger als um einen programmatischen
Entwurf geht, der weit über die eigene Fachdisziplin
des Vf.s, aber auch über die spezifisch amerikanische Situation
hinausreicht, für die dies Buch zunächst geschrieben
worden ist. Kritisch mag man vermerken, daß bei aller
Aufgeschlossenheit des Autors für die Fragestellungen der
Gegenwart ein konservativer Grundzug unverkennbar ist.
Er zeigt sich nicht nur in den Vorbehalten gegenüber bestimmten
Strömungen innerhalb der modernen europäischen
Theologie, sondern vor allem auch in einer ganz
offensichtlichen Unterbewertung der „historisch-kritischen"
Methode, bei der die Frage nach dem theologischen Recht
dieser Methode gar nicht erst in den Blick kommt. Abgesehen
von solchen kritischen Anfragen an den Autor ist
jedoch offenkundig, daß die im vorliegenden Buch entworfene
„Neue Biblische Theologie" gerade im europäischen
bzw. im deutschsprachigen zum gegenwärtigen Zeitpunkt
besonderes Interesse beanspruchen kann, zumal auch hier
in den letzten Jahren wiederholt die Forderung nach einer
neuen „Biblischen Theologie" laut geworden ist'.

Jeno Hans-Friedrich Weiß

1 Vgl. bes. H.-J. Kraus, Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte
und Problematik. Neukirchen-Vluyn 1970, und F. Lang, Christuszeugnis
und biblische Theologie. Erwägungen zur Frage einer Biblischen Theologie
Alten und Neuen Testaments in der Sicht der heutigen Exegese,
In: EvTh 29, 1969, S. 523-534 (S. 523, Anm.: Literatur!).

NEUES TESTAMENT

Käsemann, Ernst [Hrsg.]: Das Neue Testament als Kanon.

Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen

Diskussion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht (1970).

410 S. gr. 8". Kart. DM 29,50; Lw. DM 36,-.

Das Buch müßte eigentlich überschrieben sein: „Das reformatorische
Schriftprinzip in der gegenwärtigen Theologie
"; denn eigentlich ist es nicht weniger als dieses, was
seit den kanongeschichtlichen Arbeiten von Semler überall
dort zur Debatte steht, wo im Zusammenhang der notwendigen
Reflexion auf die theologische Bedeutung der historischen
Bibelkritik über den Sinn des Kanonbegriffs und
dessen Grenze gestritten worden ist. Es versteht sich von
selbst, daß das Zeitalter der dialektischen Theologie im Zei-