Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1971

Spalte:

815-816

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Titel/Untertitel:

Von Schleiermacher bis zur Gegenwart 1971

Rezensent:

Andersen, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

815

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 11

816

BIBELWISSENSCHAFT

Mußner, Franz: Geschichte der Hermeneutik. Von Schleiermacher
bis zur Gegenwart. Freiburg—Basel—Wien: Herder
1970. V, 34 S. 4° — Handbuch der Dogmengeschichte,
hrsg. v. M. Schmaus, A. Grillmeier, L. Scheffczyk. I. Bd.,
Fasz. 3 c, 2. Teil.

Die sich nun bereits über 20 Jahre hinziehende Herausgabe
des Handbuches der Dogmengeschichte, die auf vier
Bände veranschlagt ist, spiegelt sehr deutlich den Lernprozeß
wider, in den Herausgeber und Autoren eingetreten
sind. Vom ursprünglichen Herausgeberkreis Schmaus, Geiselmann
und H. Rahner ist nur noch Schmaus geblieben.
Als verantwortlicher Schriftleiter zeichnet jetzt neben M.
Seybold M. Eichinger.

Bisher liegt noch kein Band abgeschlossen vor, aber es
sind bereits von jedem wichtige Teilstücke erschienen. Eine
Vollendung des Gesamtwerkes ist noch nicht abzusehen.
Wahrscheinlich ist im Laufe der Theologiegeschichte noch
niemals ein literarisches Unternehmen auf ähnliche Weise
geplant und durchgeführt worden. Nach dem Entwurf der
Grundkonzeption sind viele Gelehrte an den verschiedensten
Stellen an die Arbeit gegangen, um jeweils einige Fertigteile
zu erstellen, die dann später einmal dem Ganzen
eingefügt werden. Die ursprüngliche Gesamtplanung (Bd. I:
Das Dasein im Glauben, Bd. II: Der trinitarische Gott, die
Schöpfung, die Sünde, Bd. III: Christologie, Soteriologie,
Mariologie, Gnadenlehre, Bd. IV: Sakramente und Eschato-
logie) ist durchgehalten worden, auch wenn es einige nicht
unerhebliche Ergänzungen und Verschiebungen gegeben
hat.

Die zunächst für einen Ergänzungsabend geplante »Geschichte
der theologischen Methode" soll nun den Abschlufs
von Bd. I bilden. Die dafür ebenfalls vorgesehene Behandlung
des Problems „Rationale Glaubensbegründung" wird
vermutlich ebenfalls - ohne direkt zum Thema gemacht zu
werden — in Bd. I abgehandelt werden. Als wichtigste Ergänzung
ist die schon in der zweiten Teilveröffentlichung
in Bd. II eingefügte Thematik der Ekklesiologic zu nennen,
die seltsamerweise in der ersten Aufgliederung des Werkes
noch nicht auftauchte. Eine gewisse Unsicherheit hat
offenbar über den theologischen Ort der Gnadcnlehre bestanden
. Die 1962 und 1963 erschienenen Faszikeln lassen
eine Planung auf fünf Bände erkennen und verweisen die
Gnadenlehre zusammen mit der Eschatologie in Bd. V,
während sie nach dem neuesten Stand wieder wie ursprünglich
den Abschluß von Bd. III bilden soll. Erwähnt zu werden
verdient schließlich, daß für die 1951 erschienene erste
Teilveröffentlichung von B. Poschmann über Buße und
letzte Ölung bereits seit 1969 eine Neubearbeitung von
F. Weller angekündigt wird.

Von einem Lernprozeß muß man aber auch deshalb sprechen
, weil alle Einzelarbeiten sich nicht nur an der zugrundeliegenden
Gesamtsystematik orientieren, sondern die
fortschreitende innerkatholische Diskussion berücksichtigen
und in sehr betonter Weise den ökumenischen Dialog suchen
. Das hat bei der Behandlung des hermeneutischen
Themas dazu geführt, die Geschichte der Hermeneutik in
zwei Teilen — bis Schleiermacher (H. Riedlinger) und von
Schleiermacher bis zur Gegenwart (F. Mußner) abzuhandeln
. Davon liegt der zweite Teil jetzt vor.

Er gibt zunächst in fünf §§ (1. F. D. E. Schleiermacher,
2. W. Dilthey, 3. M. Heidegger, 4. H.-G. Gadamer, 5. R.
Bultmann und seine Schule) einen Einblick in die herme-
neutische Bewegung seit anderthalb Jahrhunderten im außerkatholischen
Raum, um auf diesem Hintergrunde die
Diskussionslage in der katholischen Kirche seit Vaticanum
I darzustellen. In diesem Aufriß findet die Überzeugung
Ausdruck, daß die hcrmcncutische Reflexion — es gab
sie zwar schon immer in der Kirche — erst seit Vaticanum II

zu einer umfassenden theologischen Grundwissenschaft
zu werden im Begriff ist. Anlaß dazu ist aber vor allem die
ökumenische Begegnung mit der Hermeneutik im „außerkatholischen
Raum" (S. 2).

In sehr knappen, aber eine umfassende Literaturkenntnis
verratenden Ausführungen, gibt Mußner einen Überblick
über die Geschichte und skizziert sehr gut den Stand
der Diskussion auf protestantischer Seite heute. Zu einem
Orientierungsmaßstab wird ihm dabei der hermeneutische
Grundsatz Gadamers: „Das Verstehen ist selber nicht so
sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern
als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem
sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln"
(S. 11).

Darin sieht Mußner die Grundlinien einer Position, die
kritische Rückfragen an einzelne Vertreter der Bultmannschule
notwendig macht — so bezweifelt er z. B., ob Ebe-
lings Satz: „Hermeneutisches Prinzip ist der Mensch als
Gewissen" genügend Raum läßt für die Funktion der Überlieferung
im hermeneutischen Prozeß (vgl. S. 21) —, die
es aber ebenfalls ermöglicht, „einen neuen Frühling in der
theologischen Hermeneutik im katholischen Raum einzuleiten
" (S. 33). Hier besteht immer noch ein großer Nachholbedarf
. Durch Vaticanum II sind „hermeneutische Grundsätze
und Ansätze" (S. 34) freigesetzt, die einen fruchtbaren
Dialog mit der modernen Hermeneutik eröffnen. Noch
nicht voll eingeholt ist deren transzendentaler Ansatz, der
sich seit Schleiermacher im Blickfeld befindet: „Welche
Voraussetzungen existentialer Art müssen auf Seiten des
Auslegers gegeben sein, damit wirkliches Verstehen zustande
kommt? (S. 34).

Aber Mußner möchte die Hermeneutik vor dem „Subjektivismus
in der Auslegung" bewahrt wissen; darum
müssen die „hermeneutischen Grundsätze von ,Dei Vcrbum'"
mit eingebracht werden. Wahres Verstehen wird noch nicht
gewonnen durch historische und existentiale Interpretation,
so wichtig diese auch sind, sondern durch ein gehorsames
Hinhören auf das in der Schrift bezougte Handeln Gottes,
der den Menschen und die ganze Schöpfung in das Geheimnis
seines eigenen Lebens hineinziehen will (vgl. ebd.).
Mußner hebt damit auf die Wirkungsgeschichte des Wortes
Gottes ab, die die kirchliche Existenz mit in die theologische
Hermeneutik bewußt einbezieht, aber zugleich den
Horizont öffnet für „Denkanstöße, die von der Soziologie,
der modernen Linguistik und vom Strukturalismus ausgehen
" (S. 34). Wenn die katholische Theologie diesen Weg
einschlägt, dürfte sie für uns im ökumenischen Dialog in
Sachen Hermeneutik ein sehr hilfreicher Partner werden.

Neuendettelsau Willhelm Andersen

Childs, Brevard S. i Biblical Theology in Crisis. Philadelphia
: The Westminster Press [1970]. 255 S. 8°. Lw. $ 8,—.

Der Vf. des vorliegenden Buches — Professor für Altes
Testament an der Yale University — bezieht sich mit der
Überschrift „Biblical Theology in Crisis" zunächst auf eine
bestimmte Periode innerhalb der amerikanischen Theologie
, die sich zeitlich etwa vom Beginn der 40er Jahre bis
in die 60er Jahre hinein erstreckt und gekennzeichnet ist
durch ein verstärktes Interesse an der Bibel sowie an der
Rückbeziehung alles theologischen Arbeitens auf die Bibel.
Diese Periode wird vom Vf. als „Biblical Theology Movement
" bezeichnet. Sic ist zwar in mannigfacher Weise von
den verschiedensten europäischen Theologen beeinflußt —
im Bereich des Neuen Testaments reicht der Einfluß von
R. Bultmann bis zu O. Cullmann, im Bereich des Alten Testaments
von W. Eichrodt bis zu G. v. Rad —, trägt aber
doch spezifisch amerikanische Züge, so u. a. in dem Versuch
, die Spaltung zwischen dem konservativen und dem
„liberalen" Flügel innerhalb von Theologie und Kirche