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Ausgabe:

1971

Spalte:

796-798

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Schültke, Werner

Titel/Untertitel:

Die Brüder vom gemeinsamen Leben und Peter Dieburg <1420 - 1494> als der kritische Repräsentant der Hildesheimer Eigenart 1971

Rezensent:

Schültke, Werner

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 10

798

In neuerer Zeit haben neben den Genannten zur genaueren
Kenntnis der Brüder v.g.L. die Arbeiten Posts (seit 1935,

mehrere, z. T. sehr umfassende bedeutende Publikationen)
Ginnekens (1942), Wanscms (1958) und die kirchenrechts-
getchichtlicb interessante Dissertation von I. Crusius (1961)
beigetragen. Mil der gründlicher Untersuchung Wansems,
der eigenständig die Thematik Gerretsens aufgreift, dürfte
die Diskussion um Entstehung und Entwicklung der Brüder
v.g.L. bis 1400 zu einem klärenden Schluß gelangt sein. Daß
noch manche Fragen ungeklärt sind, zeigt die Abhandlung
von M. Ditsche über den Begriff devotio modernn (1960) und
der (sehr einseitige) historiographische Bericht von .1. Al-
berts (1958).

Außer den Darstellungen zur Ccsamtgeschichte der Brüder
v.g.L. wurden auch für jedes der insgesamt 57 holländischen
und deutschen Brüdcrhäuser die dazu veröffentlichten
Quellen und Untersuchungen erfaßt und die Ergebnisse
U>ersichtartig für die einzelnen Nicderlassug festgestellt.
Neben manchen Besonderheiten, die teils lokal bedingt sind,
teils in der Auseinandersetzung zwischen monastischen und
w,'ltoffencn Tendenzen innerhalb der Brüderbewegung ihre
Ursache haben, ist in Wesen und Wirksamkeit eine einheitliche
Zielstellung zu erkennen. Gefördert durch die jährlichen
Rektorenkonferenzen (coUoquium) in Zwolle und Mün-
rter fand die devotio moderne ihre praktische Verwirklichung

""eh außen in einer für ihre '/eil vorbildlichen und teilweise
besonders anerkannten Scholarcnseelsorge (Existenzsicherung
dunh Arbeit, erbauliche Bibelstunden — collaciones —,
eigene Konvikte), Die «reitoffene Frömmigkeit der Brüder
v-g. L. zeigt sich u. a. in dem Bemühen, auf das Unlerrichts-
wesen Einfluß zu nehmen (13 eigene Schulen, enger Kontakt
n»'t den Lehrern). Nachwirkungen im pädagogischen Berich
finden sich u. a. bei Johannes Sturm (Straßburger
Schule) und Calvin (Genfer Akademie 1559). Auch die aufkommende
Buchdruckerkunst wußten sich die Fraterherrcn
zunutze zu machen, und mancherorts sind sie die ersten, die
""' Druckerei einrichten (z. B. in Brüssel und Rostock).

Geistesgeschichtlich ist die devotio moderna für die religiöse
Einstellung des deutschen Humanismus bedeutungsvoll
gewesen; Erasmus ist ein Zögling der Brüder v.g.L., andere
, wie Cele, Ilcgius, Rudolf v. Langen, Murmellius haben
zeitweise bei den Brüdern gewohnt oder waren eng mit ihnen
befreundet. Von bleibender Bedeutung ist diese innerliche
l'röinmigkeit für nachfolgende Frömmigkeitsbewegungen
geworden; wesenhafte, auf die devotio moderna zurückweisende
Elemente sind hei den Reformatoren, hei Loyola, im
':uiS('nismus und im Pietismus nachweisbar. Bis in unser
Jahrhundert hinein finden sich Nachwirkungen der Brüder-
Bewegung, an deren Ideale u. a. die „Brüdergemeinschaft
vom gemeinsamen Leben", die „Oekumenische Marien-
schwesterschaft" und der ,,Evangelische Ilumiliaten-Orden"
bewußt anknüpfen.

"'■r II. Teil der Dissertation befaßt sich mit dem Leben
und Werk Peter Dieburgs unter besonderer Berücksichtigung
seiner Exkurse.

Der Text der „Annahm und Akten des Lüchtenhofes zu
Hildcsl. eim" ist nur in der Veröffentlichung des Hildesheimer
Archivars Doebner (1903) erhalten, die dieser Publikation
'■'■gründe liegende Handschrift Dieburgs ist verschollen.

Trotz der textkritischen Untersuchung Boerncrs (1905) erweist
sich der Verlust des Originals für die Beurteilung von
Dieburgs Charakter in mancher Hinsicht als nachteilig,
zumal wesensbedingte Zusammenhänge zwischen der Urschrift
und der torsohaften „Reinschrift" der Annahm bestehen.

Wesen und Eigenart Peter Dieburgs erschließen sich aus
persönlichen Stellungnahmen zu bestimmten Ereignissen im
Lüchtenhof sowie der durch ihn mitbestimmten Geschichte
der (deutschen) Brüderbewegung, vor allem aber aus den
vier „Exkursen". Obwohl die ungepflegte Grammatik Dieburgs
stellenweise mehrere Übersetzungsmöglichkeiten zuläßt
, hängt das Ergebnis der Untersuchung der Grundlagen
seiner kritischen Frömmigkeit nicht wesentlich davon ab.
Die Kxk ursc gehören zu der von den Brüder V.g.L. besonders
gepflegten Erbauungsliteratur, für die Innerlichkeit und unverwechselbare
Individualität gleichermaßen charakteristisch
sind. Für die Dieburgsche Religiosität sind bestimmend die
Bekehrung zu Christus, die allumfassende Liebe Gottes in
Christus, ein sich vornehmlich an paulinischem Schrifttum
orientierender Biblizismus sowie mystische und spirituali-
stische Elemente. Das von Dieburg geforderte Streben nach
höchster Vollkommenheit in der Nachfolge Christi mündet
für ihn persönlich im Bekenntnis zur ecclesia dei, die er im
Geist der l'rkirche am reinsten verkörpert sieht. Die wachsende
Übereinstimmung mit «lern Wesen der ecclesia primi-
tiva ist die Grundlage für harte Kritik an religiösen Mißständen
, am Kleinglauben und (niedersächsischen) Unglauben
seiner Zeitgenossen.

Die Gedankengange der Exkurse stehen unter dem Einfluß
der ihm bekannten „Imilatio Christi" und einer nach
seinem persönlichen Frömmigkeitsempfinden getroffenenAus-
wahl vnn Kirchenvätern und Ordensstiftern (z. Ii. Augustin,
Benedikt von Nursia; Anselm von Canterbury). Einen bedeutsamen
Eindruck auf Dieburg haben die Vorstellungen
des ihm persönlich bekannten Gabriel Biel hinsichtlich der
Rechtfcrtigungslchre gemacht, doch ist eine ins einzelne gebende
Abhängigkeit von diesem nicht nachweisbar. In den
Erörterungen und Bemerkungen Dieburgs zu Fragen des allgemeinen
I'riestcrtums, der Sakramentslehre und der Suffra-
gien sinil enge Berührungspunkte mit dem Gedankengut
Wessel GansfortS und Johann von Wesels, beide — wie übrigens
auch Biel — Fraterherrcn, festzustellen, ohne daß eine
direkte Abhängigkeit erkennbar ist. Die von Dieburg stets
beobachtete Vorsicht, nichts definitiv, sondern nur vermutungsweise
zu äußern, kennzeichnet die Trennungslinie zwischen
seinen Geistesverwandten.

Innerhalb der Brüderbewegung vertritt Peter Dieburg
energisch die in der Tradition des Lüchtenhofes wurzelnde
und in der christlichen Freiheit ausdrücklich begründete Eigenständigkeit
gegen alle Bestrebungen seitens des Mün-
sterschen Kolloquiums, die Devotenbcwegung zu verkirchlichen
und mit den Orden gleichzuschalten. In der Reinerhal-
tung der Ideen einer weltoffenen devotio moderna sah Dieburg
seine Lebensaufgabe. Der die Brüderhewegung ursprünglich
bestimmende Geist erlosch mit dem Tode dieses
vierten Hildesheimer Brüderrektors.

Eine umfassende Bibliographie für die gesamte Brüderbewegung
und für die einzelnen Brüderhäuser beschließt die
rbeit.

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jjjjjj' ^Y-: Ökumenischer Katholizismus. Alt-Katholische
r/icntierungspunkte "nd Texte aus zwei Jahrtausenden,
«onn: St. Cyprian [1970]. 176 S. 8°.

i)"s,' Die Biblische Theologie. Ihre Geschichte und

robleinatik. Neukirchen-Vluyni Neukirchencr Verlag des
^•^"•hiiugsvercins [1970]. XIII, 407 S. gr.8°. Lw. DM44,—.
!|t" "•• Strukturen der Kirche. 2. Aufl. Freiburg—Basel—
/*"''!: Herder [1970]. 356 S. 8°= Ouaestioncs Disputatae,
Wg. v. K. Rahner u. IL Schlier, 17. Kart. DM '24,-.

Kurzeja, A.: Der älteste Uber Ordinarius der Trierer Dom'
kirche. London, Brit. Mus., Harley 2958, Anfang 14. Jh.
Ein Beitrag zur Liturgiegeschichte der deutschen Ortskirchen
, hrsg. u. bearb. Münstcr/Wetsf.: Aschendorff [1970],
XXI, 626 S., 3 Taf., 1 Faltkte gr. 8° = Liturgiewissen-
schaftl. Quellen u. Forschungen, hrsg. v. O. Heiming, 52.

Langemcycr, L.: Gesetz und Evangelium. Das Grundanliegen
der Theologie Werner FJerts. Paderborn: Verlag d.
Bonifacius-Druckerei [1970]. 420 S. gr. 8° = Konfessions-