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Ausgabe:

1971

Spalte:

786-787

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Autor/Hrsg.:

Merkel, Friedemann

Titel/Untertitel:

Im Angesicht der Gemeinde 1971

Rezensent:

Schmidt-Clausing, Fritz

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 10

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■»Kirchcnfliicht" /.wischen Predigt und Abendmahl noch die suchungen über Bachs Verhältnis /um Kirchenlied bringen

daraus resultierende Notlösung der angehängten Abend- abschließend nochmals eigene Forschungsergebnisse,

mahlsfcier bezeugt. All diese Darlegungen sind mit Recht da- Friedrich Blume hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1947

W angetan, gewisse pauschale, einseitig negativ akzentuierte der evangelischen Theologie den Vorwurf gemacht, bei der

Vorstellungen vom gottesdienstlichen Leben des spätortho- wissenschaftlichen Bachforschung zu lange abseits gestanden

doxen Luthertums zu korrigieren. Andererseits verfällt der zu haben. Der Evang. Verlagsanstalt (die seit 1953 bereits das

Vf. nun seinerseits an zahlreichen Stellen in das gegenteilige Bach-Jahrbuch in Verlag genommen hat), vor allem aberdem

Extrem, indem er ,,die lutherisch« Orthodoxie" verteidigt, Vf. ist es zu danken, daß mit der vorliegenden Monographie

dabei aber in der Regel die Leipziger Sondersituation im Auge ein Stück dieser Ehrenschuld eingelöst worden ist. Das Buch

'la'- sollte Anstoß auch für andere Theologen sein, die Bachfor-

Gegenüber Friedrich Blumei Versuch, die ,,Umrisse eines schling nicht den Musikwissenschaftlern allein zu überlassen,
neuen Bach-Bildes" (1962) zu entwerfen, stellt Stiller die

«._.,„• f-. ii . i» i • ... • . ... Dies den Chriitoph Albrecht
nassive frage: „Hat Bach ein positives, inneres Verhältnis

zum Cot lesdienst seiner Zeit gehabt?" (155). Der zweite

Haupt teil des Buches liefert das Material zu einer eindeutig

Positiven Beantwortung dieser Frage.

Rein biographisch wird von der stark religiös-theologisch

geprägten Ausbildung[Bach. (Eisenach-Ohrdruf-Lüneburg) M,.rk<1, Friedeal.....,,„ Angesicht der Gemeinde. Celebratio

losgegangen. „Sobald die Trage der Bcrufscntschcidung an vrrsus ,um _ zu eincm Problem des heutigen evange-

»n herantrat, ging sein Streben ... auf die Erlangung eines lkc]wn Gottesdienstes. München: Kaiser [19701. 62 S. 8°

"Khhchen, und zwar e.nes gottcsdumstlichen Amtes, näm- = Thcolo„isclle Kxistenz heute, hrsg. v. K. G. Steck u. G.

"cti aut das des Organisten" (163). In dieser 0rundentschei- Eichholz 16« DM6 —
duug ist Bach sich treu geblieben bis hin zu seinem letzten

Amlsweehsel vom Köthener Kapellmeister zum Leipziger Di- Die kleine minutiöse Studie stellt schlicht und aus ökumc-

rector musices und Kantor. Interessant ist die Analyse und nischer Sicht die Frage nach der Anwendung der Liturgiere-

Deutung des Bachhriefes an seinen Jugendfreund Erdmanu form des II. Vatikanums im liturgischen Agieren der evange-

"i Dan/ig (1730), die Stiller vornimmt. Gerade dieser Brief ist tischen Kirche sc. lutherischer und unierter Observanz. Kon-

' Hauptstütze der Blumeschen Argumentation. (Er ist fer- krel: quoad celebrationem versus populum mit dem Ziele der

wesentlich für Waither Vetters 12 Jahre älteres Buch plena, conscia atque actuosa parlicipatio fidelium. Für die

»Der Kapellmeister Bach. Versuch einer Deutung Bachs auf katholische Kirche ein schier revolutionäres Unterfangen,das

Grund seines Wirkens als Kapellmeister in Kothen", Pols- eine Umgestaltung der Apsis erforderlieh macht. Die neue

<lom 1950, auf das Stiller eigenartigerweise keinen Bezug Meßfeier, in Wort- und Mahl teil sichtbarlieh unterschie-

■Ulnmt und es auch im Literaturverzeichnis übergeht.) Stiller den. mac ht den bisherigen Betabelnaltar unbrauchbar und

f-'reifl Gedanken von Friedrich Smend auf, indem er argu- will wieder die priesterliche „cathedra" im Scheitelpunkt der

mcnticrl : Fin sozialer Abstieg kann der Wechsel von Kothen Apsis. Die Kommunionbank, Schranke zwischen Klerus und

"ach Leipzig in den Augen der Zeitgenossen schon deshalb Laien, wird entfernt. Vor allem hat der Tabernakel, das Hoch-

nicht gewesen sein, weil sich gleich drei namhafte rlofkapell- zeichen des katholischen Gotteshauses, auf dem nunmehr vor-

■Oeister um die vakante Leipziger Stelle beworben haben.Das gestellten Zelebrationsaltar keinen Ort mehr. Meist ist der

•'m dortigen Kantorenamte wenig AtIraktive war — der La- alte Hochaltar zum Sakramentshäuschen geworden; denn

•einunterriehl; denn der Kantor war der Schulmeister! ,,Stillmessen" sind bei dem Gebrauch der Muttersprache und

Bach ist nach Ausweis seiner — leider nur spärlich erhalte- der Erfüllung der reformatorischen Forderung laut gespro-

nen — Korrespondenz alles andere als ein Gewohnhcits- oder ebener Verba testamenti kaum noch denkbar. Im kritischen

Namenchrist gewesen. Die nachgelassene Bibliothek weist ihn Gespräch mit dem Nestor der katholischen Littirgicwisscn-

•'Is theologisch interessierten und versierten lutherischenChri- schaft .1. A. Jungmann — Innsbruck gibt der Vf. eine theo-

,lcn aus. Seine regelmäßig abgelegte Ein/.elheichte und der logische Begründung, und zwar von der Ostung her, wie sie

darauffolgende Abendmahlsgang — bis hin zur letzten Kran- noch bei Thomas von Aquin fixiert ist. In der Beurteilung der

k<,nkommunion auf dem Sterbebett am 22. 7. 1750 — waren Stellung des Altars und damit des Pricstertums kamen die

seine freie Herzensentscheidung. Bachs geistliche lleimatwar Reformationen zu einer gegenteiligen Anschauung. Der Vf.

"as orthodoxe Luthertum. zitiert Luther, der es als Ziel ausgab, es „müßte der Altar

In seinen Kantaten ist Bach der große Textdeuter. Sie sind nicht so bleiben und der Priester sich immer zum Volk keh-

redigtmusik, nicht nur wegen ihres liturgischen Ortes in der ren, wie ohne Zweifel Christus im Abendmahl getan hat". Die

rschaft der Kanzelpredigt, sondern vornehmlich we- Wittenbergische Reformation beließ es aber bei den alten Al-

K''n ihre,. Aussage, wegen der musikalischen Interpretation tären und trug ihnen in den Rubriken der Deutschen Messe

,J,'r Texte. Die in ihrer „Blumigkeil" heule mitunter mehr Rechnung, wenn es heißt: „mit dem Angesicht zum Altar"

oder weniger problematischen Kantatentexte entstammen oder „mit dem Angesicht zum Volk gekehrt". In Zürich wur-

'■ineswegs dem Kreise pielistischer Dichtung, sondern sie den die Altäre abgerissen und zur (viermal jährlichen) Abend-

sJ"d Zeugnisse orthodoxer Mystik. — Stiller stellt die Hypo- mahlsfcier transportable Abendmahlstische aufgestellt, die

"esc auf, daß die Leipziger I iauptpastoren Salomon Deyling heute oft wieder ihren festen Ort haben. Der sonntäglicho

""d Christian Weiß als Textdichter eines Teiles der bisher Predigtgottesdienst (Fronaus) wurde von der Kanzel gehal-

">cht. nachweisbaren Autoren anzunehmen seien, was man- ten. Denkt man dabei noch an die sitzende Kommunion, so

* "'s für sich hat, zumal Deyling auch sonst poetisch tätig war. war — dogmatibus mutandis — in der Kirche Zwingiis das

wuammenhange zwischen Deylingschen Predigtdispositio- „versus populum" und damit die „actuosa partieipatio" vor-

"p" und einigen Bachkantatentexten werden von Stiller zur gezeichnet. Von der frühen Erlange* Schule bis Uppsala 1968

' '"tzung seiner Hypothese aufgezeigt und als Hinweis auf reicht die liturgietheologische Untersuchung über die Bcdeu-

''° gute Zusammenarbeit von Pastor und Kantor verstanden, tung des Altars in der evangelischen Kirche. Wenn der Vf.

' "-' auch als unerläßliche Voraussetzung für die heutige got- zum Überdenken dieser Frage für den Raum der genannten

Psdienslli( he Aufführung von Bachkantaten zu gelten hat. Kirchen anregt, so betont er ausdrücklich, daß er nicht bcab-

Auch das Parodienproblcm kommt zur Sprache. Dabei wird sichtige, seine Forderung „zum Status confessionis zu erhe-

''rage nach dem Verhältnis von geistlich und weltlich bei ben". Dem könnte man fördernd entgegenhalten, daß alles,

'"•'<• aufgerollt. Stiller bewegt sich mit seinen Ausführungen was in einer Kirche ist und geschieht — man vergleiche nur

J der Linie, die durch die Namen Smend — Dürr — Blan- das katholische Kircheninnere gestern und heute —, Darstel-

c"burg gekennzeichnet werden kann. — Detaillierte Unter- hing einer konfessionsbestimmten Theologie ist.