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1971

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

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Neuerscheinungen

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Theologische Literaturzeitung 9G. Jahrgang 1971 Nr. 10

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Programm der Straßburgcr, das in einem vom Vf. entdecktes
Gutachten aus dem Jahre 1636 zusammengefaßt ist, wurde
davon weitgehend geprägt. Es enthält wichtige pietistische
Topoi und nimmt einen großen Teil der Reformvorschläge
Speners vorweg. Daneben lassen sich aber auch deutlich Unterschiede
ZU den späteren Gedankengängen Speners erkennen
(Eschatologie, Frömmigkeitsübungen, Kirchenregiment).
Eine gewisse Slraffung der Darstellung wäre diesem Teil von
Nutzen gewesen.

„Die elsässischc Zeit Ph. J. Speners (1635—1666)" wird
im zweiten Hauptteil (35—189) geschildert. Er ist im wesentlichen
eine minutiös Biographie des jungen Spener. Die Darstellung
Grünbergs kann dadurch als überholt angesehen werden
. Ausgehend von der „Jugendzeit in Rappoltsweiler"
(Kap. 1,35—62) beschäftigt sich der Vf. ausführlich mit Speners
„Straßburger Studienzeit 1651-1659)" (Kap. 11, 62 bis
123), dem Studium in Basel und und den Reisen nach Genf
und Württemberg (Kap. III, 124—159). Mit Untersuchungen
über Speners Tätigkeit als „Freipredigerin Straßhurg 1663 bis
1666" (Kap. IV, 159—178) und über die Vorgänge, die zu seiner
„Berufung nach Frankfurt 1666" (Kap. V, 179-189)
führten, schließt der zweite Hauptteil. Ks ist unmöglich, an
dieser Stelle auf die Fülle von sachlichen Korrekturen der bisherigen
Forschungsergebnisse einzugehen (z. B. 42 f., 92,108f.
1l2f., 120f., Grünbergs Darstellung des Baseler Aufenthaltes
ist „heillos verwirrt" 136f„ 142, 159f. u. a.). Das gleiche gilt
für die theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Wertungen
, zu denen der Vf. durch seine Quellenstudien, teilweise
aber auch durch hypothetische Schlußfolgerungen gelangt.

Die Berufung nach Frankfurt ist die entscheidende Cäsur
im Leben Speners (190). Der dritte Hauptteil behandelt „Die
Frankfurter Zeit Speners bis zum Erscheinen der Pia Desi-
deria" (190-335). Dabei verläßt der Vf. die stark an der Biographie
Speners orientierte Darstellungsmethode. „Es wird
also im zweiten (!) Teil der Arbeit nicht ebenso wie im ersten
Teil Speners Vita dargestellt. Es wird vielmehr in genauer und
möglichst vollständiger Untersuchung nur derjenige TeilSpe-
nerschen Wirkens weiterverfolgt, der zur Entstehung der
Collegia pietatis und zu seinen Pia üesideria führt" (192).

Nach der Schilderung von Speners „Wirksamkeit im Frankfurter
Seniorat" (Kap. I, 192—230) gibt das zweite Kapitel
einen umfassenden Kinblick in Speners „Studien und literarische
Wirksamkeit" (230—253). Es gelingt dem Vf. u. a.
nachzuweisen, daß die entscheidende literarische Begegnung
Speners mit Luther nicht wie bisher angenommen in Straßhurg
durch Dannhauer, sondern seit 1669 in Frankfurt durch
den um die Erstellung eines universalen Bibelkommentarwerkes
Luthers bemühten kurpfälzischen Rat J. Heigel erfolgte
(230ff.). W. gelangt nach Untersuchung des Einwir-
kens lutherischer Gedanken auf Spener zu dem Schluß: „So
kann man den Einfluß des Spenerschen Lutherstudiums auf
die Entstehung des von Spener ausgehenden Pietismus kaum
überschätzen" (253).

Von weitreichender Bedeutung sind die wiederum auf einer
mit Akribie zusammengetragenen und sorgfältig ausgewerteten
Quellengrundlage ruhenden Ausführungen des III. Kapitels
„Das Collegium pietatis" (253—282). Danach ist das
Frankfurter Collegium pietatis keine „planvolle Gründung
Speners" (267). Nicht seine Vorstellungen waren bestimmend
(Predigt vom 3.10.1669), sondern die stark durch die Lektüre
der aus den Niederlanden kommenden mystisch-spiri-
tualistischen Literatur beeinflußten Vorstellungen einer Gemeindegruppe
um Johann Jakob Schütz. Um die Jahreswende
1674/75 vollzog sich dann unter dem Einfluß des Gedankengutes
Labadies ein Gestalt- und Bedeutungswandel
des Collegiums auf eine an urchristlichen Vorbildern orientierte
Gemeindeversammlung hin. „Eine Idee der Collegia
pietatis, wie sie Spener in den Pia Desideria vorträgt, hat
sich offensichtlich erst allmählich bei ihm gebildet. Die Wirklichkeit
ist eher dagewesen als die Idee" (268).

Johann Jakob Schütz ist das IV. Kapitel gewidmet(283 bis
306). Er hat bei der Gründung und Gestaltung des Collegium

pietatis „allem Anschein nach eine mindestens ebenso starke,
wenn nicht zeitweise sogar stärkere Bolle gespielt" als Spener
(282). Die vom Vf. herangezogene, in der Pietismusfor-
schung bisher unbeachtete Korrespondenz (1674—78) derver-
trauten Freundin Labadies, Anna Maria van Schurmann, mit
Schütz berechtigt, zu dem Schluß, daß Schütz entscheidende
Anregungen aus dem Ideengut Labadies empfing, die er an
Spener weitergab. „Die endgültige Gestalt und Idee derSpc-
nerschen Konventikel" hat sich „unter ganz wesentlichen
Einfluß der Gedanken Labadies gebildet" (304). Schütz vermittelte
Spener darüber hinaus eine Fülle von Anregungen,
die er aus mystischen (Tauler) und spiritualistischcn Quellen
schöpfte.

Dieser Tatbestand wird im abschließenden V. Kapitel „Die
Anfänge der pietistischen Eschatologie" (307—335) noch ein
mal deutlich. Speners Lehrkomplex von der Hoffnung besserer
Zeiten, in dem der Vf. die entscheidende Lehrdifferenz zur
luth. Orthodoxie sieht, gehl danach ebenfalls wesentlich auf
Anregungen Schütz' zurück, der seinerseits wiederum durch
Eleonora von Merlau und dem aus englischen Quellen gespeisten
Chiliasmus eines Knorr von Rosenroth und Pierre
Serrurier beeinflußt wurde.

Zusammenfassend stellt der Vf. fest: „Die Orientierung am
Ideal der Urchristenheit und die chiliaslische Hoffnung gehören
, wie so oft in der Kirchengeschichte, auch im Frankfurter
Pietismus in der Wurzel zusammen. Indem wir die Eni
stehung beider Gedanken in die Frühzeit des Frankfurter
Collegium pietatis datiert haben, wird diese Zeil zur I lehui'ls-
stunde des lutherischen Pietismus" (335). Da diese Gedanken
in der Pia Desideria zum ersten Mal öffentlich ausgesprochen
wurden, ist sie nicht nur die „Programmschrift", sondern zugleich
„das klassische Dokument der Entstehung des Pietis-
mrs" (ebd.).

Die hervorragende Fundierung der Arbeit wird anhand des
Quellen- und Literaturverzeichnisses (330—343) zum Schluß
auch formal vor Augen geführt. Das weitzerstreute handschriftliche
Briefmaterial wurde, soweit erreichbar, bis 1675
vollständig herangezogen. Die Spcnerbibliographie Grün-
bergs konnte dadurch verbessert und ergänzt werden. Bin
Personenregister erleichtert die Orientierung. Zu begrüßen
ist die Anordnung der Anmerkungen unter dem Text. Sie enthalten
nicht nur eine Fülle weiterführender und ergänzender
Hinweise, sondern in ihnen setzt sich der Vf. — bisweilen leicht
ironisch — auch offensiv mit der Sekundärliteratur auseinander
. Die Zahl der sachlichen Irrtümer, die er selbst namhaften
Pietismusforschern nachweisen kann, ist teilweise
überraschend.

Fragt man nach der theologiegeschichtlichen Einordnung
des Pietismus, fällt auf, daß der Vf. offensichtlich bemüht ist,
den Zusammenhang des Pietismus mit der luth. Orthodoxie
hervorzuheben (gegen M. Schmidt). Den Einfluß des mystischen
Spiritualismus beschränkt er im wesentlichen auf die
Eschatologie und die Konventikelbildung, die theologischen
Grundgedanken klammert er aus. I [ier ergeben sich kril isch*
Anfragen, die ihren Ausgangspunkt freilich hauptsächlich Ifl
der Theologie Speners haben, wie sie uns in seinen späteren
Predigten und Schriften entgegentritt. Doch hätten zumindest
die frühen Predigten stärker herangezogen werden sollen.
Die entscheidende Frage nach der Wiedergeburtslehre als
dem Zentrum Spencrscher Theologie wird nur gestreift. Von
ihrer Beantwortung hängt aber wesentlich ein Urteil überdas
theologische Verhältnis des Spenerschen Pietismus zur luth.
Orthodoxie, zur Mystik und zum Spiritualismus ab.

Doch sei abschließend noch einmal betont: Der Vf. hat die
sieh gestellte Aufgabe überzeugend gelöst und die Pietismusforschung
ein gut Stück vorangebracht. Die Arbeit kann
schon heute zu den Standardwerken der Spener- und Pietismusforschung
gezählt werden.

Hulle/Saalc Helmut Obat

Bartolome, Landelino: La hora del dialogo cristiano-mar-
xista (Teologia y vida 11, 1970 S. 240-250).