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Ausgabe:

1971

Spalte:

768-770

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Saxer, Ernst

Titel/Untertitel:

Aberglaube, Heuchelei und Frömmigkeit 1971

Rezensent:

Schäfer, Rolf

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 10

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mit dem Ergebnis der Einführung der Reformation erzielt.
Da von 1519—1528 neun Zehntel der „Verordnungen" auf
65 Räte (Mitglieder des Kleinen Rates) und Rurger (Mitglieder
des Großen Rates) fielen, fühlte sich der Vf. in die Lage
versetzt, durch die obengenannte Reduktion das Entscheidende
darstellerisch in den Griff zu bekommen.

Zur Definition des wichtigen Terminus „Verordnung" gibt
man dem Autor am besten selber das Wort: „Unter einer
Verordnung verstehe ich in dieser Arbeit jeden von einer offiziellen
Behörde — Kleiner Rat, Großer Rat, Burgermeister,
in Vollmacht handelnder Ausschuß — erteilten Auftrag an einen
Bürger der Stadt, zumeist ein Mitglied der Obrigkeit
oder einen Geistlichen. Der Auftrag kann sich auf die Vorberatung
, aber auch auf die Durchführung einer Maßnahme in
kirchlichen, politischen, zürcherischen oder eidgenössischen,
inneren oder äußeren Fragen beziehen" (S. 12).

In einem ersten Teil führt Jacob Grundsätzliches zur politischen
Führung Zürichs aus und gibt Auskunft über die Leitungsfunktionen
und -gremien, d. h. über Verordnete, Heimliche
, Bürgermeister und Obristmeister (S. 12—38). Ein zweiter
Teil (S. 39—61) untersucht Zunftg-, Berufs-, Alterszugehörigkeit
und Vermögensverhältnissc der Hauptverordneten,
d. h. (im oben gezeigten Sinne) derer, die zwischen 1519 und
1528 mit mehr als zehn Verordnungen (S. 9) von einem der
Ratsgremien — auf Vorschlag der Burger- bzw. Obristmeister
— beauftragt worden waren (S. 29). Ein weiteres Kapitel beschäftigt
sich dann mit den Zusammenhängen zwischen politischer
Führungsschicht und Reformation in Zürich (S. 62 bis
83). Es wird deutlich gemacht, aus welchen Zünften und Berufen
potentielle Anhänger bzw. Gegner der Reformation kamen
und welche Wechselwirkungen zwischen Reformation
und Führungsschicht stattfanden. Dazu gehört auch die Beachtung
der Beiträge des Großen und des Kleinen Bates zur
Durchsetzung der Reformation.

Ein vierler Teil (S. 84—117) bietet viele Tabellen, die detailliert
vor Augen führen, was in der Darstellung zuvor im
Überblick schon begegnet war. Von besonderem Interesse ist
verständlicherweise die Auskunft über den Umfang und die
Art, in denen Zwingli als „Verordneter" erscheint (S. 91 ff).
Auf den Reformator kommen insgesamt 27 „Verordnungen",
deren Anzahl allerdings schwerlich die faktische Rcdeutung
seiner Persönlichkeit für den Zürcher Stadtstaat widerspiegelt
. „Den Ausschlag gab wohl Zwingiis persönliche Ausstrahlung
, privat wie als Prediger, dazu die Macht seiner Gedanken
. Die Mitwirkung in /offiziellen' Gremien mußte
Zwingli zwar willkommen sein, doch war er nicht darauf angewiesen
, solange die führenden Politiker ohnehin und teils
weitgehend mit ihm übereinstimmten" (S. 100).

Im fünften und letzten Teil, den der Vf. als zweiten Hauptteil
bezeichnet (S. 3), führt er nach der Devise (S. 118) „lli-
story is the essence of innumerable biographies" (Carlyle)
eine relativ zum Buchganzen sehr ausgedehnte „Prosopo-
graphie" der 65 „Hauplverordneten" vor (S. 119—309). Für
jeden einzelnen verfährt Jacob nach folgendem dreizehnteiligen
Schema: Namen, Lebensdaten, Beruf, Zunft, Vermögensverhältnissc
, Stellung in der Obrigkeit zwischen 1519
und 1528, erste Zugehörigkeit zum Großen Rat, erste Zugehörigkeit
zum Kleinen Rat, familiärer Hintergrund, mutmaßliche
Haltung gegenüber der Reformation, mutmaßliche
Beziehung zwischen der äußerlich faßbaren Einstellung zur
Reformation und der politischen Wirksamkeit, Verordnungen
in den Jahren 1519—1528, Amter zur Zwinglizeit (vorab
1519—1528). Dieser Schlüssel erweist sich als außerordentlich
nützlich für das Verständnis der Sache. Großenteils, wenn
auch nicht ausschließlich, beruhen die „eigentlichen Resultate
der Arbeit" auf der so ausgestalteten „Prosopographie"
(S. 3). Darin blättert, vergleicht und kombiniert man gern.
Und wer läse nicht mit innerer Dewegung die Kurzbiographie
Jacob Grebels, der der Reformation durchaus zugeneigt
war, die täuferische Einstellung seines Sohnes Konrad und
dessen Hinrichtung mit durchleiden mußte und schließlich
selbst — in der Pensionenfrage durch Zwingli verdächtigt —

als etwa OOjähriger gewaltsam dem Tode überantwortet wurde
(S. 173-177).

Der Vf. resümiert folgendermaßen (S. lf): „Das Bekenntnis
zur Reformation war an keine zünftischen, beruflichen)
sozialen, altersmäßigen, familiären Schranken gebunden, ob-
schon es etwa unter den Rentnern und in vereinzelten beruflichen
Gruppen relativ mehr Gegner gab als in anderen
Schichten. Die Reformation veränderte die städtische, politische
Führungsschicht in ihrer personellen Zusammensetzung
zur Zwinglizeit selber nur unwesentlich. ... Wer zur
Zwinglizeit einzig auf Grund seines Bekenntnisses zur Reformation
in die politische Führungsschicht aufrückte, vermochte
sich darin nur zu halten, wenn er zugleich die schon
vor der Reformation entscheidenden Voraussetzungen erfüllte
und insbesondere eine gehobenere soziale Stellung einnahm
." Die beiden Ratsgremien muß man „differenzierter...
beurteilen als bisher" (u. a. 0.). Dem Kleinen Rat kann man
nicht einfach Reformationsfeindlichkeit, dem Großen Rat
(den Burgern) nicht ohne weiteres Reformationsfreundlichkeit
nachsagen. Im ganzen ist allerdings die Versammlung
der Burger durch ihre mehrheitlich positive Haltung zur Reformation
zusammen mit einer Minderheil im Kleinen Rat
verantwortlich zu machen „für die doch relativ reibungslose
Verwirklichung der Reformation Zwingiis in Zürich" (S. 2).

Jacobs Arbeit ist in jeder Beziehung übersichtlich und eindrucksvoll
in bezug auf das, was sie bieten will. Das wichtige
soziale Koordinatensystem ist von jedem Reformationshislo-
riker einzutragen in seine Sicht des Zwinglischen Lebenswerkes
, das eben nicht nur seine theologisch-kirchenpolitische
Seite gehabt hat.

Berlin Jouchim Rogge

Saxer, Ernst: Aberglaube, Heuchelei und Frömmigkeit. Eine
Untersuchung zu Calvins reformatorisclier Eigenart. Zürich
: Zwingli Verlag [1970]. 290 S. 8° = Studien zur Dog-
mengeschichte und systematischen Theologie, hrsg. v. E.
Jüngcl, A. Rieh, G. W. Locher, J. Staedtke, 28. DM 34, — .

„Die vorliegende Arbeit versucht, Calvins Auffassung von
wahrer Frömmigkeit ... durch eine Untersuchung über Calvins
Gebrauch der wichtigsten negativ-abgrenzenden Begriffe
Aberglaube und Heuchelei genauer zu bestimmen
(11). Aberglaube ist die falsche, selbstgewählte Frömmigkeit
(Teil 1); Heuchelei ist Halbheit des Glaubens ( Teil II).

Diese mehr oder minder lexikographischen Erörterungen
liefern den Atdaß für eine erneute Diskussion von Calvins
Bekehrung ( Teil III). Im Widerspruch gegen ältere Gelehrte
hält der Vf. Calvins Seneca-Kommcntar (über die Schrift De
dementia) 1532 für eine in dieser Frage ergiebige Quelle. Was
findet er? — Die Spärlichkeit und unoriginelle Verwendung
der Bibelzitate zeigt, daß Calvin „einem Verständnis der
Schrift im Sinne der lutherischen Reformation sebr fern
war (150). Er stand bei der Abfassung innerlich bei Erasmus;
dem entsprach auch die Wahl des Themas und die darin zum
Ausdruck kommende kirchenpolitische Absicht. Erasmus ist
es gewesen, der die Aufmerksamkeit Calvins auf die Kirchenväter
, insbesondere auf Augustin hingelenkt hat. Viel schM'
fer freilich, als seine Vorbilder das getan hätten, geißelt Calvin
— oft auch ohne von seinem Text genötigt zu sein — <l>e
superstitio: „Die falsa religio ... sieht der Calvin des SeneCB"
Kommentars im Katholizismus seiner Zeit" (184). Die radikale
Haltung des Beformators jedoch, der die katholisch«
Frömmigkeit im ganzen verurteilt (189), nimmt er zunächst
noch nicht ein; Anzeichen dafür ist, daß Calvin den römj"
sehen Aberglauben nur erst nach dem Schema der thomi»t»'
sehen Tugendlehre als eine Übertreibung der Religion ansieht
(190), welche durch Streichung der Mißstände zu heil''"
wäre. Andererseits sind Elemente reformatorischer Theolog'8
zu beobachten, so z. B. ein deutlicher Hinweis auf die Gnadenbuße
(198). Calvin befand sich 1532 in einem Übergang""