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Ausgabe:

1971

Spalte:

751-753

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Gestalt und Anspruch des Neuen Testaments 1971

Rezensent:

Reicke, Bo

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751

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 10

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Verstehen; denn ich bin ja als Verstehender nicht unbeteiligt
am Gegenstand des Verstehens. Andererseits kann ich mir
durch meine Vorurteile das Verstehen gerade verstellen.
Letztlich gilt darum vom Verstehen der Heiligen Schrift, was
Mk 10,27 steht: Bei den Menschen ist es unmöglich, aber alle
Dinge sind möglich bei Gott. Gerade angesichts dieses abschließenden
Urteils vermißt man freilich Bultmanns Unterscheidung
von existentialer Interpretation und existentiellem
Verstehen, wie man denn auch den Begriff der Kongenialität
in der Hermeneutik nicht ohne Rücksicht auf Schleierma-
cher und Dilthey abhandeln sollte.

Erst der letzte Beitrag befaßt sich mit einer speziellen Bultmann
-Thematik, nämlich mit der Entmythologisicrung (154
Iiis 176). Sevenster hält es mit vielen vor ihm für eine Inkonsequenz
, wenn Bultmann einerseits die mythische Hede für
überholt hält, andererseits aber doch vom Handeln Gottes
spricht. Er beruft sich dafür auf Herbert Braun, der konse-
quenterweise auf die Rede von Gottes Handeln verzichte. Seyens
(er selbst hält es freilich für noch konsequenter, sich von
den Naturwissenschaftlern sagen zu lassen, daß es das moderne
Weltbild gar nicht gebe, weshalb man dem heutigen
Menschen deutlich sagen solle, daß er mit seinem Intellekt
nicht die gesamte Wirklichkeit umfassen könne. Nun, dem
würde Bultmann sicherlich nicht widersprechen, und damit
zeigt sich, daß Sevenster trotz berechtigter Anfragen die Ent-
mythologisierung als Versuch einer Interpretation — statt
Eliminierung — des Mythos nicht hinreichend bedacht hat.

Alle Aufsätze werden von der Warnung zusainmcngehal-
ten, das subjektive Moment in allen hermeneutischen und exegetischen
Bemühungen nicht zu übersehen. Diese Warnung
wird man sich sagen lassen müssen. Man muß sie freilich zugleich
dem Vf. zurückgeben; denn der Satz ,in dubio pro tra-
dito', auf den Sevenster stets deutlich abzielt, impliziert
gleichfalls ein subjektives Urteil und muß im hermeneuti-
schen Zirkel aufs Spiel gesetzt werden.

Berlin Walter Schmithals

Schreiner, Josef, u. Gerhard Dautzcnberg [Hrsg.]: Gestalt
und Anspruch des Neuen Testaments. Würzburg: Echter-
Vcrlag [1969]. X, 398 S. gr. 8°. Lw. DM 29,-.

Seit der Aufklärungszeit konnten sich die exegetischen
Theologen des deutschen Protestantismus verhältnismäßig
unbehindert mit der kirchlichen Tradition auseinandersetzen
; wo ihnen Widerstand begegnete, appellierten sie an die
Freiheit und verschärften die Kritik, und noch heute ist dieselbe
Dialektik wirksam. Lange ersehnten die exegetischen
Fachmänner des deutschen Katholizismus eine ähnliche Freiheit
; diese wurde ihnen nach dem zweiten Weltkrieg mehr
und mehr bewilligt, und das vorliegende Sammelwerk ist ein
interessantes Monument darüber.

Die sechzehn hochqualifizierten Mitarbeiter, hauptsächlich
mit den katholischen Fakultäten von Münster und Würzburg
verbunden, schreiben ehrlich und gepflegt über Substrate
und Strukturen des neutestamentlichen Schrifttums.
Uber die einzelnen Schriften und ihre Eigenart erfährt man
oft wenig, etwa über die Situation und den Aufbau des Tit.
oder 1. Petr. fast nichts, wobei die Darstellungen von Elisabeth
Fiorenze über Hebr. und Off. eine Ausnahme bilden. Das
dominierende Interesse haftet an vermuteten Quellen, Schichten
, Gattungen und Tendenzen, deren stufenweise Entwicklung
als etwas wissenschaftlich Gesichertes dargestellt wird.
Alles wird einem von der protestantischen Forschung aufgestellten
Schema untergeordnet, und wenn das Zeugnis der
Texte zum Schema nicht paßt, wird es wegerklärt.

Weil das Buch für Verkündiger und Gläubige gedacht ist
(S. X), mag zur Behandlung der Echtheitsfragen einiges bemerkt
werden. Daß das Neue Testament nicht immer eigenhändige
Apostelbriefe, sondern gelegentlich Teamwork oder

Adaptationen enthält, bleibt immer eine denkbare Möglichkeit
; die Prüfung der Frage muß aber mit Selbstkritik des
Forschers verbunden werden, und eine solche fehlt allzuoft
in der modernen Exegese. — 1. Behauptet man etwa, daß
2. Thess., Kol., Eph. und die Past. nicht von Paulus oder seinen
Jüngern, sondern lange nach seinem Tode von Unbekannten
geschrieben seien, welche den Namen des Paulus sowie
Elemente seiner Biographie und seines Vokaludars eingearbeitet
hätten, dann werden trotz allen diplomatischen
Ausdrücken perfide Fälschungen angenommen. Jeder theologisch
unvoreingenommene Leser muß es für Unbefriedigend
hallen, wenn in solchen Fällen die Pscudonymität verharmlost
wird, sei es auch mit. Hinweis auf literarische Gepflogenheiten
der Antike, etwa bei den Mosebüchern, Esrabüchern
oder Orpheusgedichten, die freilich den Paulusbriefen gar
nicht analog sind. Beiden Katholischen Briefen ist die Lage
eine andere, weil ihre Vf., falls sie Nachfolger bekannter Apostel
waren, vielleicht mit einem gewissen Hecht deren ('■eist
vertreten konnten, aber keine detaillierten Personalien eingeschmuggelt
haben, wie es bei den sog. Deuteropaulinen vorausgesetzt
wird. Hat sich jemand die Mühe genommen, etwa
aus dem kurzen Philem. eine Reihe von Namen herauszugreifen
, um rund dreißig Jahre später die Gemeinde von Kolossä
(damals im Gegensatz zu Laodizäa bedeutungslos) wieder
einmal mit. Grüßen von Paulusbegleitern zu beglücken, dann
ist er als ein Fälscher zu betrachten (j'appelle im chat un
ehat). Ungeachtet der historischen Absurdität bleibt die theologische
Konsequenz solcher Unechlhcitsvenlikle bedenklich
. — 2. Über den Verfasser des angeblich zwischen 80 und
85 n. Chr. geschriebenen Eph. wird ganz richtig bemerkt (S.
118): „Es ist schwer, etwas darüber zu vermuten, was ihn
letztlich dazu bewog, seinem Werk die äußere Form eines
Paulusbriefes zu geben." Aber dasselbe Urteil müßte für 2.
Thcss. und die übrigen als Nachgeburten dargestellten Briefe
gellen, die in der Tat nur einem theologischen und stilistischen
Schema zuliebe, nicht auf Grund äußerer historischer
Umstände spätdatiert und im allgemeinen ganz vage auf die
Flavierzeil bezogen werden. Hätte jemand damals unter Gebrauch
des Namens Paulus einen Apostelbrief herstellen wollen
, dann hätte er sich wahrlich nicht um gleichgültige Antiquitäten
, sondern um lebenswichtige Aktualitäten bemüht,
wie die Verfasser von Off. und 1. dem. Bis jetzt hat kein Forscher
/.eigen können, daß sich in den sog. Deuteropaulinen die
praktischen, sozialen, philosophischen und religiösen Probleme
der Flavierzeit widerspiegeln, wobei gerade diese Epoche
der neutestamentlichen Fachwelt auffallend wenig bekannt
ist. Daß in diesen Briefen ilie Organisation und die Härene
behandelt werden, bildet keinen Beweis für aachpaulinischen
Ursprung, denn in der Frühzcit, als die Gemeinden neu waren
, müssen dieselben Probleme noch brennender gewesen
sein. Wir verkennen nicht die stilistische Eigenart der in Frage
kommenden Briefe, die vielleicht auf ein Teamwort hinweist
. Bei der üblichen Spätdatierung werden aber formelle

Differenzen fixiert und hochgespielt, historische Umstände
dagegen nonchaliert oder manipuliert. Überhaubt bleibt immer
eine Menge unsicherer Fragen in bezug auf die Echtheit
der Briefe, und es ist nicht richtig, dem nichttheologischei»
Leser den Eindruck eines Konsensus zu vermitteln.

Im einleitenden und im abschließenden Artikel des Bandes
, die vom ersten Herausgeber J. Schreiner stammen, finden
sich geschickte und lehrreiche Bemerkungen über das Verhältnis
des A. T. zum N. T. und über das N. T. im Leben der
Kirche. Kann aber die unmittelbare Verbindung von Litcrar-
kritik und Bibeltheologie, wie sie das Sammelwerk darstellt,
die Kluft zwischen Entwicklung*- und Offenbarungsvef-
ständnis überbrücken? Es bedeutet unvermeidlich eine Mc-
tabasis eis allo genos, wenn die lebendigen Organismen der

Schriften literarkritisch zerschnitten werden, dann eine hypothetische
Masse herausgepreßt und traditionsgeschichtlich
arrangiert wird, die nun als Fundament der verpflichtenden
Offenbarung glaubhaft gemacht werden soll. In der Arbeit
des Exegeten bleiben immer die mündlichen und schrift'1'