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Ausgabe:

1971

Spalte:

707-709

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schick, Manfred

Titel/Untertitel:

Kulturprotestantismus und soziale Frage 1971

Rezensent:

Wendelborn, Gert

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707

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 9

708

Chapey, Fernand: Le principe de correlation dans la theo-
logie systematique de Paul Tillich (RechSR 59, 1971
S. 5-25).

Kambartel, Friedrich: Theo-logisches. Definitorische Vorschläge
zu einigen Grundtermini im Zusammenhang
christlicher Rede von Gott (ZEE 15, 1971 S. 32-35).

Moingt, Joseph: Ccrtitude historique et foi (RechSR 58,
1970 S. 561-574).

Poulat, Emile: Critique historique et theologie dans la
crise moderniste (RechSR 58, 1970 S. 535-550).

Rahner, Karl: Replik. Bemerkungen zu: Hans Küng, Im
Interesse der Sache (StZ 96, 1971 S. 145-160.)

ETHIK

Schick, Manfred: Kulturprotestantismus und soziale Frage.
Versuche zur Begründung der Sozialcthik, vornehmlich in
der Zeit von der Gründung des Evangelisch-sozialen Kongresses
bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges (1890-1914).
Tübingen; Mohr 1970. VIII, 187 S. gr. 8° Tübinger
wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen, hrsg. v. Mitgliedern
des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft d. Universität
Tübingen, 10. DM 29,-; Lw. DM 34,50.
Nachdem in den letzten Jahrzehnten theologische Forschung
sich vorrangig geistesgcschichtlichen Fragen im
engeren Sinne zugewandt hatte, scheint nun das Interesse
am Eingebettetsein von Kirche und Theologie in die geschichtliche
Gesamtwirklichkeit einschließlich ihrer sozialen
und gesellschaftlichen Konturen neu zu erwachen. Dieser
Trend ist durchaus begrüßenswert, ist er doch geeignet,
christliches Selbstverständnis und kirchliches Leben wirk-
lichkeitsbezogener und damit sachlicher und nüchterner zu
erfassen, als dies bei dogmatischer bzw. dogmengeschicht-
licher Engführung möglich ist. Die Art freilich, in der dies
geschieht, wird ihrerseits fast immer stark von der jeweiligen
Umwelt geprägt sein.

Das kann man sich auch an der vorliegenden Studie gut
vergegenwärtigen, einer unwesentlich gekürzten Arbeit, die
1969 als Dissertation an der Wirtschaftswissenschaftlichen
Abteilung der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen
Fakultät der Universität Tübingen angenommen wurde.
Der Vf. hat, bevor er ein volkswirtschaftliches Studium aufnahm
, bereits Theologie studiert und ist dadurch besonders
befähigt, ein solches Thema zu bearbeiten. Tatsächlich
kann man dieser Arbeit - abgesehen davon, daß es schon
an sich begrüßenswert ist, die Stellung evang. Theologie
zur sozialen Frage in den Jahrzehnten vor Ausbruch des
ersten Weltkrieges kritisch zu befragen - bescheinigen, dafj
sie sauber und sachkundig geschrieben ist und zu
interessanten Ergebnissen führt, die der Beachtung durch
viele Leser gewiß sein dürfen. Dabei kann sich Schick teilweise
auf Monographien der letzten Jahre, wie Hermann
Timms „Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht
Ritschis und Wilhelm Herrmanns" (Gütersloh 1967), stützen
und behandelt entsprechend die Haltung Ritschis und seiner
Schüler zur sozialen Frage nur knapp, aber eindringlich.
Ernst Troeltschs Versuch der Überwindung der Ritschlschen
Ansätze wird allerdings allzu summarisch dargestellt. Auch
den Modern-Positiven - als deren Hauptvertreter Theodor
Kaftan und Rcinhold Seeberg vorgestellt werden - sind
nur relativ kurze Abschnitte gewidmet, wofür dem ..Staats
Sozialismus" des mit Seeberg befreundeten Nationalökonomen
Adolph Wagner mit Recht ein gleich großer Raum
wie letzteren zugebilligt wird, weil die Modern-Positiven
auf seine Stimme mehr als auf andere Fachleute zu hören
geneigt waren. Schließlich wird im 2. Kp. noch kurz auf das
in der zu schaffenden idealen Gemeinde verankerte sozialethische
Grundanliegen des zu Unrecht weithin vergessenen
sächsischen Pastors Emil Sülze hingewiesen.

Durch die Knappheit der Hinweise auf die sozial-
ethischen Ansätze der Ritschlschen Schule, der Modern-Positiven
und Sulzes, der zwischen den Erstgenannten theologisch
eine Mittelposition, einnahm, bleibt viel Raum für das
3, Kp., in dem die gesellschaftsethische Arbeit in den
gleichzeitigen sozialen Vereinigungen des Protestantismus
dargestellt wird, da in sie die sozialethischcn Ansätze der
vom Kuturprotestantismus im weitesten Sinne beeinflußten
theologischen Schulen wenigstens teilweise einflössen. Diese
Gewichtsverteilung ist völlig legitim, weil dadurch zugleich
(He theoretischen Ansätze am praktischen Wirken, soweit es
überhaupt zu einem solchen kam, gemessen werden können.
In diesem Kp. wird der Leser vor allem über den 1890
gegründeten Evangelisch-sozialen Kongreß und die 1897
aus einer Spaltung des Kongresses vor allem auf Betreiben
Stöckers entstandene Freie kirchlich-soziale Konferenz, ihre
leitenden Intentionen und ihre Geschichte in den ersten
zwei Jahrzehnten ihres Bestehens unterrichtet.

Doch obgleich die Darstellung flüssig und informativ ist,
bleiben zumindest für einen Rez., der in einer völlig anderen
Umwelt als der Vf. lebt, schwerwiegende Fragen.
Schick stellt sich die damals zu lösende sozialethische
Aufgabe als die der Integration des Vierten Standes in das
bestehende Gesellschaftssystem dar. Das ist natürlich, lebt
er doch in einer Gesellschaftsordnung, die die Kontinuität
mit der Vergangenheit bei evolutionärer Weiterentwicklung
de» Bestehenden betont. Für den Rez. stellt sich dieselbe
Frage dagegen als die nach der revolutionären Veränderung
der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse. Schick sieht
wie der Rez. die Erfolglosigkeit der damaligen gesellschaftsethischen
Bestrebungen im Raum des Protestantismus
bei unverkennbar redlichem Bemühen vieler namhafter
Theologen, den niederen Schichten soziale Gerechtigkeit
zuteil werden zu lassen. Auch er sieht das Verhaftetsein
dieses Personenkreises in die Welt des Bürgertums im
weitesten Sinne und ihren meist konservativen, bestenfalls
aber bürgerlich-liberalen politischen Standort, ihre Hochachätzung
des bestehenden monarchischen Staates und ihr
völliges Unvermögen, sich einen qualitativ neuen gesellschaftlichen
Zustand vorzustellen oder ihn gar durch aktives
politisches Handeln selbst mit herbeizuführen. Aber das
eigentliche Problem besteht für ihn - wie es nach Meinung
des Rez. richtig wäre - nicht hierin, sondern im Streben
des Kulturprotcstantismus nach völliger Synthese zwischen
christlichem Glauben und bürgerlichem Individualismus bei
weitgehender Anerkennung der Eigengesetzlichkeit der
realen Lebensbereiche. Hier indes stellt sich die Frage nach
den Prioritäten, d. h. danach, ob das gesellschaftliche Sein
dieser Theologen ihr Bewußtsein bestimmt hat oder ihr
Bewußtsein vorrangig gegeben war. Der Rez. meint, daß
erstercs richtig ist und entsprechend der Kulturprotestan
üsmus nur eine von verschiedenen Möglichkeiten war, die
bestehende Gesellschaft als erhaltenswcrt, ja als unaufgeb-
bar zu erweisen. Gerade deshalb konnten ja auch Ritschlia-
ner und Modern-Positive sich in ihrer gesellschaftlichen
Standortbestimmung weit besser verstehen als beim Versuch
einer theologischen Fundierung, und der Kulturprotcstantismus
kann nicht allein als theologisch-religiöses Stimulans
für sozialethischos Wirken betrachtet werden. Waren doch
Stöcker, v. Nathusius u. a., die sich neben den Modern-
Positiven in der Freien kirchlich-sozialen Konferenz organisierten
, ausgesprochen konservative Theologen. Im übrigen
betont Schick selbst, wie ähnlich oder gar gleichartig die
gesellschaftliche Grundposition der Theologen aller Richtungen
war, wenn man von ganz geringen Ausnahmen wie
dem in diesem Buch nicht behandelten jüngeren Blumhardt
absieht, was auch durch die unterschiedliche Mischung, in
der die Grundmotive bei den einzelnen Schulen und ihren
wichtigsten Repräsentanten auftreten, nicht in Frage
gestellt wird.