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Ausgabe:

1971

Spalte:

690-692

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Titel/Untertitel:

Irénée de Lyon: Contre les Hérésies 1971

Rezensent:

Karpp, Heinrich

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689

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 9

690

darum nicht minder entschieden den Kampf an, und zwar
in einer Art der Beurteilung, daß man partienweise fast
meinen könnte, die Ausführungen eines radikalen deutschen
Neutestamentiers zu lesen. Irenaus, hören wir, hat
die - nicht bei Lukas, wohl aber im I. Klemensbrief -
beginnende Enteschatologisierung des Christentums vollendet
und recht eigentlich den Weg einer kirchlichen Theo-
logia gloriae beschritten, indem er die Traditionen seiner
östlichen Vorgänger - Polykarp, Justin, Meliton u. a. -
im Stich ließ und sich statt dessen der abendländischen und
speziell römischen Denkweise verschrieb. Das Verhältnis
von Kirche und Gottesreich gibt für diese Entwicklung nur
einen besonders geeigneten Prüfstein ab: trotz einiger entgegenstehender
Äußerungen steht der Glaube bei Irenäus
danach nicht mehr primär in der Spannung des Kommen
den, das die Kirche nur antizipiert, sondern erfährt in ihr
bereits die Erfüllung allen Heils, das Christus gebracht
hat. Irenäus blickt also weniger vorwärts als zurück und
versteht selbst den Geist und seine wunderbaren Gaben
vorzüglich in diesem Sinn und nicht mehr als Unterpfand
einer nach wie vor zukünftigen Herrlichkeit. Diese neuen
Thesen sucht der Vf. in ständigem Vergleich des irenäischen
Hauptwerks mit den älteren Vätern und vorzüglich mit
den neutestamentlichen und hier wieder den paulinischen
Aussagen Zug um Zug zu erhärten.

Das erste Kapitel dient der historischen Orientierung.
Es schildert - im einzelnen problematisch - die älteren
Fronten, wie sie sich gegenüber den Doketen und Markio
niten, den Enkratiten und Montanisten gebildet hatten,
und betont mit Recht, dafj die spezifisch irenäischen Gedanken
in der Abwehr der gnostischen Irrlehrer entwickelt
und von hier aus zu verstehen sind. Das zweite Kapitel
betrifft die irenäische Christologie und Eschatologie.
Christus wird weniger als der Versöhner und Tilger der
Sünde Adams verstanden denn als der krönende Abschluß
des weltumfassenden Heilsplans. Darum schließt die Weltgeschichte
nicht zufällig mit dem irdischen tausenjährigen
Reiche ab. Darum wird die Inkarnation im Sinne der
Rekapitulationstheorie wichtiger als das Kreuz. Der eigentliche
Schwerpunkt des Buches liegt im dritten Kapitel, das
unmittelbar dem Kirchenbegriff gewidmet ist. Hier soll sich
vor allem der eingangs betonte Verlust der cschatologischen
Dimension zeigen, der Umschlag zu einer positiven Beurteilung
von Welt und Staat und eine entsprechende mora-
Hstisch-klerikalc Bejahung der konkreten Kirche, die die
Ansätze der Pastoralbriefe einseitig fortführt. Irenäus vertritt
einen „ekklesiologischen Monophysitismus". Die satanische
Anfechtung ist nicht mehr eine die Kirche und den
Christen selbst bedrohende Wirklichkeit, sondern hat sich
zum Gegensatz von Kirche und Welt verflacht. Die ständige (!)
Buße, die Dialektik von Indikativ und Imperativ im
Sinne Bultmanns und Schliers und der paulinische Begriff
der Erwählung sind zugunsten der menschlichen Autonomie
verlorengegangen oder doch ihrer zentralen Stellung
beraubt. Das vierte Kapitel rundet das so gewonnene
Bild endgültig ab. Gegenüber den jüdisch-eschatologisch
orientierten Quartadezimanern vertritt Irenäus eine hellenistische
, weltoptimistische Auferstehungstheologie und
Unterstützt als Friedensmittler Viktors römischen Anspruch
auf einen „primato non solo di onore, ma di giuridizione"
(S. 239). Damit ebnet er den Weg für die künftige Ent
Wicklung: La tensione escatologica ed ecclesiologica si i
andata vieppiü offuscando dinanzi a un ottimismo cosmo
logico e antropologico e a una cristologia „politica" desti
nati a fondara una theologia gloriae nella quäle il posto
centrale venisse sempre piü preso dal mondo al posto della
eroce e della Chiesa al posto dcl Regno (S. 240). Das Buch
schließt mit einem ausführlichen Autoren- und Stellen-
register.

Was soll man zu diesem neuen Irenäusbild sagen? Es
beruht - wenn man von der letzten, kirchenpolitischen

Deutung im „römisch " klerikalen Sinne einmal absieht -
nirgends auf Phantasie, sondern auf sorgsamer Interpretation
unter ständiger Auseinandersetzung mit der bishe
rigen, auch und gerade der protestantischen wissenschaftlichen
Literatur (Cullmann, van Unnik, Wingren usw.).
Dies ist bei meiner summarischen Charakteristik vielleicht
nicht hinreichend deutlich geworden. Man wird das Buch
bei künftigen Forschungen jedenfalls stets zu Rate ziehen
müssen. Aber seine Gesamtdeutung erscheint mir gleich
wohl gründlich verfehlt, und zwar aus folgenden Gründen:
1. Bewußter- und erklärtermaßen beschränkt sich der Vf.
auf „Adversus haereses" und läßt die „Epideixis" und was
wir sonst von Irenäus kennen und wissen, beiseite. Das
dient der schärferen Profilierung seiner „persönlich", aber
wie er meint, dennoch nicht „willkürlich" gestalteten Interpretation
. Ich kann ihm darin nicht zi stimmen, eben weil
es bei seinen pointierten Urteilen nicht um Einzelheiten,
sondern um die ganze theologische Position des Irenäus
geht. 2. Der Vf. akzeptiert weitgehend die Quellenschci-
dungen von Loofs und läßt das, was Irenäus in diesen
Stücken sagt, nicht eigentlich als seine Meinung gelten.
Dieses Vorgehen verkennt m. E. das innerste Wollen des
Kirchenvaters und sollte seit den schönen Darlegungen
Widmanns (die J. kennt, S. 89) als veraltet gelten. Damit
nicht genug, werden immer wieder auch eindeutig irenu
ische Aussagen an den Rand geschoben, eben weil sie
vereinzelt sind und in das konstruierte Gesamtbild sich
nicht einfügen lassen. 3. Die von Irenäus bekämpften
gnostischen Positionen werden nirgends als solche entwickelt
. Trotz der wiederholten Versicherung ihrer Bedeutung
erscheinen die „katholisierenden" Äußerungen des Kir
chenvaters damit wie ein frei entfalteter Ausdruck seiner
Überzeugungen und werden als solche zu den älteren
Positionen in einen oft überscharf gezeichneten Gegensatz
gestellt. Irenäus erscheint als Repräsentant eines antiescha
tologischen Abfalls, und seine wahre geschichtliche Bedeutung
wird fast in ihr Gegenteil verkehrt. Denn im Unter
schied zu seinen katholischen Vorgängern, die sich im
Kampf gegen den gnostischen Pseudo-Paulinismus an Paulus
mehr oder weniger vorbeidrücken, entwickelt Irenäus einen
„Katholizismus", der trotz allem wieder paulinisch, pneu
matisch, apokalyptisch-eschatologisch und schlechterdings
nicht „römisch" klerikal war. Damit soll er natürlich nicht
zu einem Manne gestempelt werden, dessen Anschauungen
durchweg auf der Höhe des Neuen Testaments geblieben
wären; aber andererseits verstehe ich auch nicht, wie es
bei Bekämpfung der Gnosis möglich gewesen sein sollte,
auf eine Betonung des Schöpfungsgedankens, auf die
sittliche Verpflichtung zur „Freiheit" und Vernunft und auf
das Recht der konkreten Kirche zu verzichten. Es fragt
sich, wieweit mit den radikal-theologischen Maßstäben, die
der Vf. anlegt, eine gerechte Würdigung des Irenäus überhaupt
möglich ist, zumal er sich nur auf alcuni aspetti
soltanto del pensiero die Ireneo eingelassen und damit in
engagierter Einseitigkeit von vornherein gegen ihn Stel
lung bezogen hat.

Heidelberg H. v. CompenhniiBcn

Irenee de Lyon: Contre les Heresies. Livre V. Edition cri-
tique d'apres les versions armenienne et latine, par
A. Rousseau, L. Doutreleau, s. j., Ch. Mercier, I: Intro-
duetion, Notes justificatives, Tables. II: Texte et Traduc-
tion. Paris: Les Editions du Cerf 1969. 430 et 472 S. 8° =
Sources Chretienncs, 152, 153.
Seit dem Jahre 1952 erscheint in der Reihe der Sources
Chretiennes das Hauptwerk des Irenäus in einer dringend
erforderlichen kritischen Ausgabe. F. Sagnard eröffnete
diese damals mit dem dritten Buche; dieser Band wurde
in ThLZ 1954, Sp. 482 ff. angezeigt. Durch Sagnards Tod