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Ausgabe:

1971

Spalte:

43-45

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Miethke, Jürgen

Titel/Untertitel:

Ockhams Weg zur Sozialphilosophie 1971

Rezensent:

Junghans, Helmar

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 1

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M., wie die bei Tauler naheliegende Gefahr einer dualistischen
Negation des Weltlichen auf Grund des „christlichen
Ganzheitsdenkens" gebannt ist, das ihm gestattet, den ganzen
Menschen, auch seine Leiblichkeit, seine Berufsarbeit
und sein äußeres Werk, in sein spirituelles Leben einzube-
ziehen.

Es versteht sich, daß die Eckhart und Tauler betreffenden
Partien des Buches an vielen Stellen Anlafj zu kritischer
Diskussion von Einzelheiten geben würden. Allein, diese
Kritik hier zu vollziehen, wäre nur dann sinnvoll, wenn
sie geeignet wäre, der dargelegten Intention und dem Zielgedanken
dieses Buches den Boden zu entziehen. Das kann
man aber nicht sagen. So ergibt sich als Resultat dieser Untersuchung
die Verifizierung der immerhin erstaunlichen
These, daß ausgerechnet die spekulative Mystik Eckhart-
scher Prägung einen entscheidenden Schritt zur Wiederentdeckung
einer christlichen Existenz echt neutestamentlichen
Gepräges gegenüber deren antik-philosophischen Verfremdung
in der gesamten voraufgehenden patristischen und
scholastischen Tradition darstellt. Und das zweihundert
Jahre vor der Reformation!

Rostock Konrad Weiss

Miethke, Jürgen: Ockhams Weg zur Sozialphilosophie. Berlin
: de Gruyter 1969. XXII, 585 S. gr. 8°. Lw. DM 86.—.

Zu den interessantesten und bisher nicht abschließend
gelösten Aufgaben der Ockhamforschung gehört das Verhältnis
zwischen den philosophisch-theologischen (hinfort
philosophisch genannten) und den kirchenpolitisch-politischen
(hier politisch genannten) Schriften Ockhams. Während
die erste Gruppe zum größten Teil im Zusammenhang
mit Ockhams Lehrtätigkeit in Oxford vor seiner Zitation
nach Avignon 1324 entstand, schrieb er alle Schriften der
zweiten Gruppe nach seiner Flucht aus Avignon 1328. Die
zeitliche Abhängigkeit steht damit fest, aber nicht die Art
und Weise der gedanklichen.

In der älteren Ockhamforschung herrschte die Meinung
vor, Ockhams politische Ideen resultierten aus seinen philosophischen
. Diese wurden aber als Nominalismus, radikaler
Voluntarismus und radikaler Positivismus verstanden. Ockhams
politische Anschauungen wurden entsprechend konstruiert
und verurteilt. John B. Morall hat diese Arbeitsweise
als neuthomistische Erfindung charakterisiert.

Dem gegenüber hat im Zuge der neuen Ockhamforschung
Philotheus Böhner den Zugang zum Verständnis der
politischen Lehren Ockhams nicht von dessen philosophischen
Anschauungen aus gesucht, sondern zwei Ereignisse
als Ausgangspunkt gewählt, die Ockham Anstöße zu den
politischen Schriften gaben, nämlich den theoretischen Armutsstreit
der Franziskaner und das Eingreifen des Papstes
in die deutsche Königswahl. Dadurch wurden Ockhams
Aussagen in ihren geschichtlichen Zusammenhang gestellt,
ohne daß sie mit angeblichen philosophischen Grundlagen
überfremdet wurden. In bezug auf das Verhältnis zwischen
den beiden Schriftengruppen begnügte er sich mit dem Hinweis
: „We do not deny that are inner connections". Worin
diese aber bestanden, galt es nun zu erarbeiten. Dieser
Aufgabe widmete sich Wilhelm Kölmel. Er lehnte entschieden
die Meinung ab, Ockham habe seine politische Meinung
aus seinen philosophischen logisch abgeleitet, so daß
jene das Resultat seiner philosophischen Grundentscheidungen
seien. An die Stelle einer unmittelbaren Fortführung
der philosophischen Gedanken setzte er die Ähnlichkeit
der Denkmodelle. Dabei hob er aber zugleich hervor,
wie die in den philosophischen Schriften dem Menschen
zuerkannte Willensfreiheit in den politischen Schriften weiter
entfaltet worden ist.

Die nun hier vorliegende, leicht überarbeitete Berliner
Dissertation von 1966 hat es sich zur Aufgabe gesetzt,

über die Beziehung der beiden Schriftengruppen mehr auszusagen
, als das bisher in der neueren Ockhamforschung
geschehen ist, ohne in den alten Fehler verfallen zu wollen,
die Verbindung zwischen den beiden Größen als logische
Deduktion zu verstehen. Die Einheit wird zunächst nicht
in dem logischen Zusammenhang der Aussagen gesucht,
sondern in der Person Ockhams selbst, vor allem in der
zentralen Motivation seines philosophisch-theologischen Systems
.

Dieser Ansatz erfordert, Ockhams „Leben und Schriften
" (1—136) und die „Grundzüge von Ockhams theologischer
Philosophie" (137—347) zu behandeln. Das geschieht
in einer kenntnisreichen und abgewogenen Darstellung, die
der neueren Ockhamforschung zu ihrem Nutzen stark verpflichtet
ist. Die Auseinandersetzung mit der alten Ockhamforschung
, die auch heute noch einige Vertreter hat, oder
auch mit einzelnen Thesen solcher Forscher, mit denen der
Vf. die Grundeinschätzung teilt, ist weitgehend in den Anmerkungsteil
verwiesen, in dem der Leser bei dem Kapitel
über Ockhams Biographie besonders vor den Hypothesen
Charles Kenneth Bramptons gewarnt wird. Im übrigen ist
der Anmerkungsteil durch ausführliche Zitate sehr umfangreich
— er nimmt im Schnitt die untere Hälfte der Seite
ein —, was vielleicht nicht unbedingt erforderlich war, für
den Benutzer aber sehr bequem ist. Da der Vf. wie Böhner
die Bedeutung des Armutsstreites für die Entwicklung der
politischen Ideen Ockhams erkannt hat, fügt er als drittes
Kapitel „Der Armutsstreit unter Johannes XXII." (348—427)
hinzu, das diesen Streit vom 13. Jh. an bis zum Zusammengehen
der Franziskanerspiritualen mit Ludwig IV. von
Bayern verfolgt. Erst jetzt können im Schlußkapitel „Die
Anfänge der politischen Theorien" (428—556) untersucht
werden. Es geht also in dieser Arbeit tatsächlich, wie der
Titel es treffend ankündigt, vor allem um den Weg Ockhams
zu seiner Sozialphilosophie, nicht um deren Inhalt
und schon gar nicht um deren Abschluß. Der Vf. zeigt vielmehr
, wie Ockham in seinen frühen politischen Schriften
Motive aus seinen philosophischen Schriften aufgenommen
hat und sich dabei schon die späteren Entfaltungen in Ockhams
Sozialphilosophie andeuten. Um welche Motive geht
es dabei?

Die Antwort ist gar nicht so leicht zu finden. Was die
philosophischen und die politischen Schriften noch am meisten
verbindet, ist Ockhams Überzeugung, die Wahrheit
erkannt zu haben und verteidigen zu müssen, was ihn
schließlich bis zum Kampf gegen das juristisch-äußerlich
aufgefaßte kichliche Lehramt führte. Das wird besonders
in seinen Protestationen deutlich, deren Reihe schon in den
philosophischen Schriften beginnt. Diese Überzeugung gibt
ihm auch die Freiheit, seine eigenen Anschauungen anonym
in enzyklopädischen Werken unter denen seiner Gegner
darzustellen, da er die Zuversicht hatte, der Leser würde
die richtigen Ansichten selbst herausfinden. Aus dieser
Grundlage heraus hat Ockham die Sache der Franziskanerspiritualen
zu der seinen gemacht. Und diese Entscheidung
wurde zum Ausgangspunkt für Ockhams Nachdenken über
die „politischen und konstitutionellen Probleme" seiner
Zeit. Hier zeigt der Vf. sehr deutlich, wie Ockham in seiner
Gedankenführung mit dem Armutsstreit verbunden
war, sei es, daß er die Behauptungen Johannes' XXII. Punkt
für Punkt widerlegte oder die Argumentation seiner Kampfgefährten
aufnahm. Dadurch wird aufs neue unterstrichen,
daß Ockham seine Soziallehren nicht aus seinen philosophischen
Anschauungen abgeleitet hat; aber wie nimmt er sie
nun in seinen politischen Schriften auf?

Der Vf. sieht den Ausgangspunkt der theologisch-philosophischen
Gedanken Ockhams in einer tiefen Erfahrung
der freien Allmacht Gottes. Das haben schon Zeitgenossen
Ockhams getan. Beachtung verdient aber, daß der Vf. Ockhams
Aussagen über Gottes Allmacht nicht als abstrakte
Lehrsätze versteht, aus denen die abwegigsten Schlußfol-