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Ausgabe:

1971

Spalte:

626-627

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Bertinetti, Ilse

Titel/Untertitel:

Krisis des Erbsündendogmas 1971

Rezensent:

Bertinetti, Ilse

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

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logen, die neuen Resultate im naturwissenschaftlichen, philosophischen
und historischen Bereich zu berücksichtigen.
Der erste im Modernismus unternommene Versuch einer
Neuorientierung scheiterte, denn die katholische Kirche war
nicht bereit, sich in einzelnen theologischen Auseinandersetzungen
der neuen Situation zu stellen, sondern sie war
und ist bestrebt, als Kirche in einer Neubesinnung auf ihr
Wesen auf die neuen geistesgeschichtlichen Gegebenheiten
einzugehen. Dem Zweiten Vatikanischen Konzil ging es um
eine grundlegende Ekklesiologie. Das Wesentliche an dieser
Ekklesiologie ist die dynamische Beschreibung der Kirche,
d. h. die Darstellung der Kirche in ihren Lebensäußerungen.

Diese neue Ekklesiologie behandelt der zweite Teil der
Arbeit: „Die Wesensbilder der Kirche als Deutung der ekklesialen
Dimension des Gottesdienstes". Das Zweite Vatikanische
Konzil hat hauptsächlich in der Liturgiekonstitution
der Erkenntnis Ausdruck verliehen, daß sich die Kirche im
Gottesdienst darstellt und realisiert; demzufolge kann das
Wesen der Kirche nur durch die Darstellung ihres Gottesdienstes
beschrieben und der Gottesdienst nur durch die
Wescnsbilder der Kirche gedeutet werden. Die zentralen biblischen
Wesensbilder der Kirche sind i „Volk Gottes" und „Leib
Christi". Der Gottesdienst als Realisierung des Volkes Gottes
ist die Aktualisierung des Neuen Bundes, des gesamten
licilsgcschichtlichen Handelns Gottes und der Einheit der Erwählten
. Das Motiv der ekklesialen Dimension des Gottesdienstes
basiert auf dem Volk-Gottes-Gedanken. Dieser Gedanke
enthält die Schwerpunktverlagerung im Verständnis
der Kirche von der Hierarchie zur Gesamtheit der Gläubigen
. Damit eröffnet er die Möglichkeit der anthropologischen
Betrachtung der Kirche und des Glaubensaktes für die
katholische Theologie.

Die gottesdienstliche Realisierung der Kirche als Leib
Christi ist die Aktualisierung der Gegenwart Christi, der
Einheit in Christus und des strukturbestimmenden Gegenübers
von „Haupt" und „Leib", d. h. der Beziehung der Über-
Und Unterordnung, sowie des Gebens und Empfangens im
Verhältnis zwischen Christus und seiner Kirche. Diese Beziehung
wird sichtbar in den Diensten der Liturgie.

Die Besinnung auf die ekklesiale Dimension des Gottesdienstes
hauptsächlich unter den beiden genannten Bildern
nötigt die katholische Theologie zu systematichen Schlußfolgerungen
, die im dritten Teil: „Christus in der ekklesialen
Dimension des Gottesdienstes" behandelt werden. In
erster Linie geht es dabei um die Erörterung der Präsenz
Christi unter folgenden Themen: 1) Opfer, 2) Realpräsenz
Und 3) Heil und Kirche.

1) Wegen des engen Bezuges zwischen der Kirche und
dem Opfer Christi ist die Deutung dieses Opfers von dem
Selbstverständnis der Kirche bestimmt. Unter dem Gesichts-
Punkt der ekklesialen Dimension des Gottesdienstes heifjt
das, daß das Opfer Christi in der Weise Gegenwart wird,
daß er sein Gottesverhältnis, das durch die Begriffe Kult und
Heiligung umschrieben werden kann, in, durch und mit
seinem Volk realisiert. Diese Auffassung zieht eine neue
S'cht des Priestertums und der Erlösung nach sich.

2) Das Heilsgeschchcn verläuft zwischen Personen. Daher
s'nd Kategorien einer physikalisch ausgerichteten Philosophie
vergangener Zeiten ungeeignet, die Gegenwart des Opfers
Christi zu beschreiben. Die Verbindung zwischen dem
damaligen und dem heutigen Heilsgeschehen ist der Geist
Christi; der damaligen geschichtlichen Dimension der Heils-
ta' entspricht heute die ekklesiale Dimension der eucharisti-
Schcn Handlung. Diese Handlung vollzieht sich in Zeichen,
Unter denen das Wort einen bedeutenden Platz einnimmt.
°ie Konsequenz aus dem Verständnis des Gottesdienstes als
2eichenhandlung wäre, die immer noch offiziell gültige
Transsubstantiationslchre aufzugeben.

3) Im Zweiten Vatikanischen Konzil besann sich die ka-
'holische Kirche um ihrer Sendung an die Welt willen auf
s'ch selbst. In ihrer Beziehung zu den nichtkatholischen Christen
und den NichtChristen sieht sie sich als „unitatis sacra-
mentum". Dieser Begriff ist nur vom Gottesdienst her verständlich
, denn das Zeichen vollständiger kirchlicher Einheit
wäre die „communicatio in sacris", d. h. die gemeinsame
Feier des eucharistischen Gottesdienstes, welche die katholische
Kirche bisher nicht nur den protestantischen, sondern
auch den nichtunierten orthodoxen Christen verweigert, die
demnach kirchlich nicht auf der gleichen Stufe wie die katholische
Kirche stehen. Damit ist klar, daß das ökumenische
Problem zwischen katholischer und evangelischer Kirche
nicht etwa auf dem Gebiet der Exegese liegt, wo man
sich inzwischen auf weiten Strecken geeinigt hat, sondern
im Bereich der Liturgik.

Im vierten Teil: „Folgerungen aus der ekklesialen Dimension
des Gottesdienstes" wird die Frage nach den Grenzen
der Reformmöglichkeit der katholischen Kirche und nach
neuen Themen für das interkonfessionelle Gespräch gestellt.
Die Einrichtung von eigenen Lehrstühlen für die Liturgiewissenschaft
, die alle anderen Disziplinen in sich zusammenfassen
, auf den Gottesdienst beziehen und ihnen wegweisende
Impulse geben soll, läßt hoffen, daß die Besinnung
auf die ekklesiale Dimension des Gottesdienstes noch
weiterreichende Veränderungen, wie sie in der Konsequenz
dieses Motivs liegen, zeitigen wird als bisher. Jedoch das
Gegenüber der progressiven Liturgiekonstitution und der
retardierenden Kirchenkonstitution verdeutlicht die widersprüchliche
kirchlich-theologische Situation der katholischen
Kirche und berechtigt zu der Frage, ob sich die angebahnte
Wandlung des Selbstverständnisses dieser Kirche in angemessener
Weise fortsetzen wird.

Bertinetti, Ilse: Krisis des Erbsündendogmas. Eine Untersuchung
zur theologischen Gegenwartsproblematik von
Gesamtschuld und ethischer Verantwortung. Habil.-Schrift
Berlin 1970. 299 S.

Die Habilitationsschrift geht davon aus, daß die evangelische
Dogmatik bei aller Umstrittenheit des Erbsündenbegriffes
bis heute allgemein an der Lehre von einer Schuld-
verfallenheit, an der die ganze Menschheit partizipiert, festhält
. Die gegenwärtige Krise der Theologie, die einen spezifischen
Ausdruck in der theologischen Anthropologie und
damit zugleich in der Erbsündenlehre findet, wird von der
Verfasserin unter dem besonderen Aspekt des klassischen
Dogmas von der Erbsünde erörtert.

In den Prolegomena wird zunächst eine Ortsbestimmung
vorgenommen und das Verhältnis der theologischen Anthropologie
zur Philosophie kritisch untersucht. In einem theologiegeschichtlichen
Rückblick wird das Interesse der Theologie
am sündigen Menschen dargestellt und begründet. Der
Hauptabschnitt der Arbeit bringt eine umfassende Auswertung
der neueren Literatur. Dabei kommen die am reformatorischen
Bekenntnis orientierten Interpretationen der
Erbsündenlehre ebenso zu Wort wie die radikale Kritik am
Dogma und der dogmenhistorischen Entwicklung seit Augustin
.

Die Krisis der tradierten Erbsündenlehre bricht in der Regel
auf im Zusammenhang mit der Frage nach der Willensfreiheit
oder im Hinblick auf den durch die Silbe „Erb-"
bezeichneten Schuldkonnex und der Imputation einer nicht
selbst verursachten Schuld. Sobald sich aber die Theologie
anschickt, das Offenbarungszeugnis den Kriterien der exi-
stentialen Interpretation oder des existentiellen Bezuges zu
unterwerfen, wird die Erbsündenfrage zum hermeneuti-
schen Problem.

An den Konzeptionen von B u 11 m a n n und T i 11 i c h
wird einsichtig gemacht, wie das Bestreben, die theologische
Kategorie der „Erbsünde" (auch: Grund- oder Ursünde etc.)
mit Verfallensein, Entfremdung oder Uneigentlichkeit zu
umschreiben, auf die Grenzen des hermeneutischen Prinzips
stößt. So wird für Bultmann der Sündenbegriff zum bloßen