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Ausgabe:

1971

Spalte:

615-617

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Titel/Untertitel:

(1768 - 1802) 1971

Rezensent:

Kimmerle, Heinz

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

616

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers. I. 3. Aufl. 1: auf
Grund des Textes der 1. Aufl. von 1870 und der Zusätze
aus dem Nachlaß hrsg. v. M. Redeker. (1768-1802.) XLV,
567 S., 1 Taf. gr. 8°. Lw. DM 68.-. 2: Abhandlungen aus
dem Nachlaß W. Diltheys zur Fortsetzung seiner Schleiermacher
-Biographie (3. und 4. Buch; 1803—1807), kritische
Neuausgabe des von H. Mulert in der 2. Aufl. der Biographie
mitgeteilten Nachlasses, hrsg. v. M. Redeker. (1803
bis 1807.) XXIV, 251 S. gr. 8°. Lw. DM 44.-. Berlin: de
Gruyter 1970.

Die vorliegende 3. Auflage des Ersten Bandes der Schleiermacher
-Biographie von W. Dilthey erfolgt in Verbindung
mit der Erstausgabe des Zweiten Bandes, die derselbe Herausgeber
vor einigen Jahren veranstaltet hat (S. W. Dilthey:
Leben Schleiermachers. II. 2 Halbbände. Berlin 1966; vgl.
meine Besprechung in ThLZ 93, 1968 Sp. 451—453). Zunächst
hat Redeker aus dem Dilthey-Nachlaß die Studien zur Fortsetzung
dieses grofjen Werkes publiziert, die sich auf die
Gedankenwelt Schleiermachers beziehen, wie sie in seinen
Studien und Entwürfen, seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen
zum System als Philosophie und Theologie greifbar
wird. Nunmehr legt der Herausgeber (1) den von Dilthey
selbst veröffentlichten I. Band sowie (2) Abhandlungen
zur unmittelbaren Fortsetzung der Entwicklungsgeschichte
Schleiermachers, die H. Mulert bereits der 2. Auflage beigegeben
hat, in neuer Ausgabe vor.

Die Editionskriterien Mulerts, der neben Eingriffen in
den Stil Diltheys in den beigefügten Abhandlungen aus dem
Nachlafj auch eigene Ergänzungen anbrachte, ohne sie hinreichend
kenntlich zu machen, wurden von C. Stange im
Theologischen Literaturblatt von 1923 heftig kritisiert. Redeker
stellt nun den 1870 von Dilthey selbst veröffentlichten
Text, der die Zeit von 1768 bis 1802 behandelt, wieder
für sich und ergänzt ihn nur um die Zusätze, die eindeutig
darauf bezogen sind. Die Abhandlungen zur Fortsetzung,
die auf die Jahre 1803 bis 1807 eingehen, die aber nichts
Fertiges, bis zur Publikationsreife Durchgearbeitetes darstellen
, werden im zweiten Halbband des ersten Teils zusammengefaßt
.

Diese Einzelheiten der Editionsgeschichte des „Leben
Schleiermachers" muß man kennen, um die barock wirkenden
Titel der beiden Halbbände zu verstehen, über die hier
zu reden ist.

Man sollte nun vermuten, daß durch diese Neuveröffentlichung
des I., die der Erstausgabe des II. Bandes an die
Seite gestellt wird, das Gesamtwerk dieser Biographie dem
heutigen Leser zugänglich ist. Allein es fehlt ein wesentliches
Stück, das in der Vorrede zum ersten Halbband zwar
erwähnt und für den zweiten Halbband in Aussicht gestellt
wird, das man in diesem jedoch vergeblich sucht: die „Denkmale
der innern Entwicklung Schleiermachers". Redeker
kündigt an, er werde im zweiten Halbband diesen Text, den
„Dilthey 1870 herausgab, Mulert aber 1922 unberücksichtigt
ließ, erneut in kritisch überprüfter Gestalt mitteilen" (I, 1,
S. XXIX). Dies geschieht indessen nicht. So entsteht die paradoxe
Situation, daß das ganze Werk jetzt vorliegt, mit Entwürfen
, Vorstudien, Parallelfassungen usw., daß aber für
die „Denkmale", die den entscheidenden Interpretationen
Diltheys im I. Band zugrunde liegen, auf die Ausgabe von
1870 zurückgegriffen werden muß.

Trotz dieser empfindlichen Lücke ist es natürlich sehr zu
begrüßen, daß diese wichtige Arbeit Diltheys, die ja für
seine gesamte geisteswissenschaftlich-hermeneutische Konzeption
einen Beispielfall gewissermaßen durchrechnet, der
heutigen Leserschaft zugänglich gemacht wird. Es soll auch
nicht unerwähnt bleiben, daß der Herausgeber gegenüber
der Erstausgabe des II. Bandes und auch gegenüber Mulerts
Edition des erweiterten I. Bandes wesentlich strengere

historisch-kritische Maßstäbe zur Geltung bringt. Seine Vorworte
sind knapp, aber äußerst instruktiv; in ihnen wird
Diltheys Schleiermacher-Deutung sehr klar umrissen. Die
neue Form christlicher Religiosität, die Schleiermacher in
seiner Lebensgeschichte für das ganze 19. Jh. hervorgebracht
hat, ist nach Dilthey schon sehr früh, eine Reihe von Jahren
vor dem Beginn der Arbeit an den „Reden", in ihren
Grundzügen entstanden. Die Herkunft aus der Herrnhuti-
schen Brüdergemeine wird durch die Auseinandersetzung
mit der Aufklärung, vor allem auch mit Kant, und durch
den Rückgang auf Spinoza zu einer eigenen, theoretisch gegefestigten
Gestalt christlicher Frömmigkeit umgewandelt.

Freilich wird man diese Auffassungen Diltheys auch sehr
kritisch rezipieren müssen. Die biographische Darstellung
zieht die verschiedensten Zeitströmungen in den Entwicklungsgang
einer individuellen Lebensgeschichte zusammen.
Von diesem Standpunkt aus, der gewiß bedeutende spezifische
Möglichkeiten enthält, sucht sie eine ganze geschichtliche
Epoche in ihren Bedingtheiten und in ihren objektiven
Hervorbringungen verständlich zu machen. Damit wird dieser
Standpunkt indessen überfordert. Die Begrenztheit der
damit gegebenen Perspektive, die ausgeblendeten Bereiche
des gesellschaftlichen Lebens, in die das zufällige Einzelschicksal
nicht hineinreicht oder die primär objektiven Gesetzen
unterliegen, werden nicht ins Bewußtsein erhoben.
Die methodische Bedeutung der Biographie für die historischen
Geisteswissenschaften ist zweifellos nicht so universal,
wie Dilthey meint; sie ist im Blick auf die genannten Probleme
neu zu bestimmen.

Ob Schleiermachers Grundkonzeption von Dilthey als pan-
theistische Mystik zutreffend beschrieben ist, hält auch Redeker
für fraglich. Im Anschluß an P. Seifert (Die Theologie
des jungen Schleiermachers. Gütersloh 1960) unterstreicht
er die eigentlich theologischen Motive der Schleiermacher-
schen Weltdeutung, die auch die erste Auflage der „Reden"
bereits kennzeichnen. Aus dieser Sicht wird auch Diltheys
Interpretation der „Weihnachtsfeier" (am Ende des zweiten
Halbbandes) problematisch, in der die spekulative Christo-
logie gegenüber der historischen Wirklichkeit des Lebens
Jesu und ihrer inneren Vergegenwärtigung im christlichen
Glauben einseitig in den Vordergrund gerückt wird.

Den bedeutendsten Beitrag des zweiten Halbbandes bildet
zweifellos die Würdigung der Platon-Übersetzung durch
Dilthey, die Schleiermacher in Berlin zusammen mit F. Schlegel
projektierte, die er aber dann in der Einsamkeit seiner
Stolper Zeit zum größten Teil ausgeführt hat. Die Einheit
von historisch-philologischer Arbeit und systematisch-philosophischer
Deutung macht die besondere Leistung Schleiermachers
aus. Schleiermachers eigene Konzeption der Dialektik
als der Grundlegung seines philosophischen Systems
ist von den Platonischen Gesprächen, ihrer Argumentationsstruktur
und ihrem systematischen Gehalt maßgeblich beeinflußt
. Sie sucht den Zusammenhang der Lehre Piatons auf
dem Boden der idealistischen Transzendentalphilosophie
geltend zu machen. Dieser Zusammenhang ist entscheidend,
nicht die Frage nach der bleibenden Richtigkeit bestimmter
philologischer Ergebnisse.

Diltheys Studien zu Schleiermachers Platon-Übersetzung
verlieren sich z. T. in biographischen Einzelheiten, deren
Darstellung nicht überall genügende kritische Distanz zum
behandelten Stoff erkennen läßt. Aber sie stellen klar die
hermeneutische Bemühung Schleiermachers um die sachge-
mäße Erfassung des platonischen Denkens heraus. Redeker
ist zuzustimmen, wenn er schreibt: Diese Studien sind „ein
konkreter Beitrag zur Wiederentdeckung und Aktualisierung
der Hermeneutik Schleiermachers, die eines der Hauptverdienste
Diltheys und seines Schleiermacher-Werkes ist und
bleibt" (I, 2, S. XIX).

Damit ist indessen nichts Abschließendes über dieses
Werk gesagt, sondern allererst der Horizont bezeichnet, in
dem die Auseinandersetzung mit Dilthey, die weitere Er-