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Ausgabe:

1971

Spalte:

614

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Herz, Heinz

Titel/Untertitel:

Alleingang wider die Maechtigen 1971

Rezensent:

Grabs, Rudolf

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Seite 1

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

614

der in Frankreich schon seit Jahrhunderten wirksamen galli-
kanischen Tradition mit ihren staatskirchlichen Implikationen
ließ andererseits den „konstitutionellen" Flügel der
Kirche bis in die Zeit der »Schreckensherrschaft" hinein auf
Integration in die Gesamtentwicklung bedacht sein. La-
treille zeigt, wie die zunehmende Radikalisierung der neuen
gesellschaftlichen Kräfte zu einer langjährigen Spaltung in
der katholischen Kirche Frankreichs führen mußte. Ihm ist
besonders dafür zu danken, wie verständnisvoll er den Weg
der konstitutionellen Kirche mit ihren zeitweiligen Höhe-
Punkten, ihren bis an die Grenze des Erlöschens führenden
Krisensituationen und ihrem bereits in der Napoleonischen
Ära erfolgenden Untergang nachzeichnet, wie er die Schwächen
dieser Kirche und die in ihr selbst wirksamen Spal-
tungstendenzen ebenso wie ihr auf ursprüngliche urchristliche
Impulse zurückgreifendes Grundanliegen, die von ihr
geleistete Arbeit und ihren wenigstens teilweise bewiesenen,
selbst zum Martyrium bereiten Glaubensmut aufzeigt.

Auch die Eidverweigerer, die fast sämtlich emigrierten —
und auch Latreilles Angaben über die Kirche in der Emigration
sind sehr aufschlußreich —, bildeten keine homogene
Gruppe. Deutlich wird aber, wie schnell sie ihr Anliegen
mit dem der Royalisten identifizierten und so zu einer
objektiv und subjektiv konterrevolutionären Bewegung
Wurden, gegen die sich naturgemäß — zumal in einem durch
die Gefahr einer Invasion seitens der vereinigten Mächte
der royalistischen Koalition gekennzeichneten Situation —die
erbitterte Feindschaft der Girondisten wie der Jakobiner
Achten mußte. Doch weist Latreille völlig zu Recht darauf
hin, daß man die Kirchenverfolgung besonders der Jahre
1793/94, die 1797—99 mit wichtigen Modifizierungen noch
einmal aufflackerte, nicht allein aus dieser Haltung der
Emigranten erklären kann, sondern ebensosehr aus den
Grundvoraussetzungen der Revolution selbst verstehen muß,
die mit dem christlichen Glauben in seiner historisch gewordenen
Gestalt letztlich unvereinbar waren. Doch verschweigt
er auch die wichtigen taktischen und sachlich bedingten
Unterschiede des Antiklerikalismus etwa eines Hebert
und Robespierre und die unterschiedliche Lage in den
einzelnen Provinzen nicht. Wichtig ist der Nachweis, daß
nach dem Sturz Robespierres die Kirchenpolitik sich wesentlich
langsamer als die allgemeine Politik wandelte.

Nicht minder eindrucksvoll wird die Kirchenpolitik Napoleons
, die sich durch dessen militärische und außenpolitische
Erfolge auch auf ganz Italien unmittelbar auswirkte,
und das durch sie ausgelöste Ringen zwischen ihm und dem
faPst dargestellt. Dabei wird ersichtlich, daß Napoleon der
'"zwischen eingetretenen gesellschaftlichen Wandlung der
Bourgeoisie entsprechend die katholische Kirche sich neu
entfalten ließ, sie aber zugleich entsprechend den gallikani-
schen Traditionen seines Landes und der Eigenart seines
-imperialistischen" Anncktionismus innen- wie außenpolitisch
in den Dienst seines universalen Imperiums zu stellen
9cvillt war — was ihm freilich nicht in jeder Hinsicht gelang
unc| Jen scharfen Konflikt mit Pius VII. nach anfänglicher
„friedlicher Koexistenz", gekennzeichnet durch die
Konkcrdatsabschlüsse, zur Folge hatte — und zugleich eini-
9e Grundzüge der republikanischen Kirchenpolitik beizubehalten
bestrebt war, die die Beseitigung der politischen
Macht des Vatikans und eine gewisse Beschränkung der
Kirche im Innern bezweckten. Richtig weist Latreille auch
darauf hin, daß die folgende Restaurationszeit, eine so
scharfe Zäsur sie auch auf kirchenpolitischem Gebiet bedeutete
, doch nicht einfach die vorrevolutionäre Einstellung des
Staates zur Kirche wiederherstellte, weil nicht nur die hin-
^0rt im Liberalismus sich kristallisierenden Kräfte, sondern
auch djc in der nächsten Periode staatstragenden konservativen
Mächte dies nicht zuließen.

Rostock Ge rt Wendelborn

Herz, Heinz, Prof. Dr. Dr.: Alleingang wider die Mächtigen.
Ein Bild vom Leben und Kämpfen Moritz von Egidys.
Leipzig: Kochler & Amelang (1970). 350 S., 1 Porträt 8".
Lw. M 12.-.

Diese Arbeit, die u. a. auch dem Gedächtnis von Karl
Heussi gewidmet ist, weist zwei Teile auf, wovon der
erste das Leben Egidys behandelt, während der zweite Auszüge
aus seinen Schriften bringt. Den breitesten Raum
nimmt die Darlegung der gesellschaftlichen Kämpfe ein, in
die sich der ehemalige sächsische Oberstleutnant mit Ernst,
Mut und sittlicher Tatkraft hineinwarf. Seine Lebenszeit
fällt in die Jahre von 1847 bis 1898. Äußere Umstände und
eine eigengeprägte innere Entwicklung führten ihn in die
sozialen Fragen und in das Ringen um die Bewahrung des
Friedens. Bertha v. Suttner, um nur ein Beispiel zu nennen,
würdigte sein dahingehendes Wirken im September 1894
mit den Worten i „Meine Freude, daß Sie auf der Welt sind,
wächst von einer Nummer der Versöhnung zur andern" (S.
290). Die „Versöhnung" war einer der Versuche Egidys, sich
eine öffentliche Plattform zu schaffen. Egidy hat viel Zustimmung
erfahren, aber wenig Erfolg geerntet. Sein „Alleingang
" ließ ihn wohl Freunde finden, aber die Stoßkraft
der Organisation fehlte.

Worauf hier der Nachdruck gelegt wird, ist die religiöse
Persönlichkeit Egidys. Der Skandal, den er erregte, wurde
durch die Herausgabe einer Schrift im Umfang von nur 53
Seiten, „Ernste Gedanken" betitelt, verursacht. Diese Schrift
bewirkte 1890 den sofortigen Verlust der beruflichen
Stellung.

Es ist zu bedauern, daß der Vf. die Anführungen aus den
grundlegenden Ernsten Gedanken auf vier Seiten beschränkt.
Dies Bedauern übersieht nicht, daß der Versuch Egidys, die
Fragwürdigkeit des staatskirchlich-orthodoxen Luthertums
seiner Zeit sichtbar werden zu lassen, in einer unzulänglichen
Weise geschah. Die Frage taucht auf, wie es nur möglich
war, daß Egidy sich so subjektiv lauter für seine undogmatische
Religiosität einsetzen konnte, ohne von dem
Gedanken berührt zu werden, was denn — für und gegen —
die lange Geschichte des Christentums im Kampf um die
normierten Glaubensaussagen bereits zutage gebracht habe.
Egidy hatte sich auf ein gefährliches Feld begeben, ohne
auch nur ein annähernd genügend fundiertes Wissen sich
verschafft zu haben.

Sosehr das klargestellt werden soll, gilt es doch, die Unzulänglichkeit
nicht zum Anlaß zu nehmen, um die Berechtigung
des Grundgedankens zu verkennen. Egidy war von
der ernsten Sorge bewegt, die viele mit ihm teilten: „Erfüllt
die Kirche in ihrer heutigen Gestalt ihren Beruf . . . ?"
(S. 163). Manches in diesen Ausführungen erinnert an Lessing
(„Erziehung des Menschengeschlechts") und an das religiöse
Schrifttum Tolstois. Worauf es Egidy ankam, war
der sittliche Lebenswandel als Frucht des „göttlichen Funkens
" im Menschen. Das schloß die Erkenntnis ein, derzu-
folge das Gewaltdenken in Glaubensdingen mit dem Geiste
des Evangeliums unvereinbar ist. Rechter Glaube und starre
Rechtgläubigkeit sind nicht miteinander zu verwechseln.

Die uneingeschränkte Gehässigkeit, die Egidy (und seiner
Familie!) sofort nach dem Bekanntwerden der „Ernsten Gedanken
" begegnete, gehört in das betrübliche Kapitel, dessen
Vorkommnisse nur zu viele Seiten der Kirchengeschichte
füllen.

Das tapfere seelische Ringen Moritz von Egidys — unweit
der Jahrhundertschwelle - nicht der Vergessenheit zu überlassen
, ist eine dankenswerte Tat. Sollte dem „Alleingang
wider die Mächtigen" eine weitere Auflage beschieden sein,
wären etwas größere Auszüge aus den „Ernsten Gedanken"
eine Bereicherung.

Dresden Rudolf Grobs