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Ausgabe:

1971

Spalte:

610-611

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Coolidge, John S.

Titel/Untertitel:

The Pauline renaissance in England 1971

Rezensent:

Delius, Walter

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

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nenen Werke findet sich in Buccrs Bibliothek. Krüger gibt
Proben der jetzigen „Erasmus-Begeisterung" (S. 49 ff.).

Die beginnende Entfremdung, vorerst die Differenzierung
des crasmischen Denkens, steht im sachlichen und zeitlichen
Zusammenhang mit der Heidelberger Disputation, in deren
Verlauf Luther Bucer außerordentlich stark beeindruckt hatte
! Der berühmt gewordene programmatische Schriftenaustausch
zwischen Luther und Erasmus und dabei besonders
das Verhalten des letzteren haben in Strasburg scharfe Reaktionen
zu dessen Ungunsten ausgelöst. Luther schien gewonnen
zu haben, als sich der Straßburger Reformator von
dem (Nur-) „Bildungs-Humanismus" des Erasmus (S. 53)
lossagte: „pereat latinae linguac decor, pereat eruditionis
mlraculum, quo Christi gloria obscuratur. Huius verbo sal-
vamur, aliorum magis perdimur." Und doch bleibt das Wissen
darum bestehen: „Fateamur et nos, per eum (sc. Eras-
mum) non parva nobis data initia veritatis agnoscendae".
Das war nicht nur ein subjektiv ehrliches Eingeständnis, es
traf den Sachverhalt! Auch spätere Absetzbewegungen und
Auseinandersetzungen (1530) konnten diesen nicht verdunkeln
. Einerseits ist Bucer „im erasmischen Klima zum Theologen
herangereift" (S. 68), andererseits ist das „Eindringen
des .Lutheranismus' " (S. 64) in sein Denken und Handeln
ein Aktivposten, der auf Kosten des Erasmus geht und die
Persönliche, wohl aber nicht sachliche Entfremdung komplettiert
. Das Mißtrauen des Erasmus gegen den Weg der
Strafjburger Reformation hat zu starken Ausdrucksformen
geführt.

Nun käme alles darauf an, das ,Wie' der theologischen
Wanderung Buccrs zwischen Erasmianismus und Lutheranismus
möglichst exakt zu bestimmen. Die Kapitel C bis G
dienen diesem Ziel. Krüger setzt ein mit einer sauberen
Analyse des erasmischen und dann des bucerischen Gesetzesverständnisses
. Der Vergleich zeigt, daß Bucer seinem
9roßen Lehrer in der entscheidenden Frage nach dem Gesetz
und Evangelium, deren Verständnis nach Luther den
Theologen mache, „bis in detaillierte Formulierungen hinein
folgt" (S. 87). Buccrs Interesse ist hier wie an vielen ande-
ren Stellen auf die „Realisierung des Glaubens im Leben des
neuen Menschen" gerichtet (S. 88); „denn dazu leitet Gottes
doctrina an". Dieser Trend zur Ethisierung des Evangeliums
— bei aller christologischen Zentrierung des Erasmus unverkennbar
— ist von Bucer weitestgehend übernommen
worden.

„Affinität" des Offenbarungsverständnisses in der Ausgestaltung
bei Bucer und Erasmus weist Krüger im nächsten
Kapitel nach. In diesem breit angelegten Abschnitt wird bisweilen
in Überschriften mehr versprochen als gehalten. Ein
Passus über das Schriftverständnis (S. 96 ff.) ist nicht nur
knapp, sondern auch in seinem Gehalt wenig befriedigend,
selbst wenn andernorts Verweise auf das Buch von Johannes
Müller zur Hermeneutik Bucers den Vf. entlasten sollen.
Gerade hier wäre der exemplarische Vergleich zwischen
Erasmus und Bucer sehr angebracht gewesen. So günstig
es ist, daß Bucer nicht fortwährend an Luther gemessen
v'ird, so orienticrungswirksam ist doch etwa eine nebeneinandergestellte
paradigmatische Exegese der beiden Humanisten
und Luthers. (Es geht um die Auslegung von Joh
'■9) Diese hilfreiche Methode hätte hier und da häufiger
zur Erhellung von Kontroverse und Gemeinsamkeiten für
Bucer einerseits und Erasmus andererseits angewendet werden
können.

Relativ breit erörtert Krüger die gemeinsamen Grundstrukturen
zum Verständnis der natürlichen Offenbarung
kei den Genannten. Von da aus ist der sachliche Übergang
zur Erörterung des anthropologischen Grundrisses bei Bucer
und Erasmus leicht einsichtig. Wenn Bucer die „Vorrangstellung
der Vernunft" betont, die ratio in der Weise charakterisiert
, daß sie „ihre Überzeugungen konsequent in die
Tat umsetzen" könne (S. 137), dann steht das in sokratisch-
Ptetonischcr Tradition, „der auch Erasmus gefolgt ist". „Und

so erweist es sich auch, daß sowohl Erasmus wie auch Bucer
die Theologie in die Ethik einmünden sehen." Das bleibt
selbst dann unabweisbar, wenn es zwischen Erasmus und
Bucer kein Einverständnis über die Rolle des liberum ar-
bitrium gibt, die Erasmus bejaht, Bucer jedoch verneint.
Krüger faßt Bucers Position in diesem Punkt folgendermaßen
zusammen: „Indem Gott in den Menschen wirkt,
macht er sie zu Handelnden, die eine von ihnen gefällte
Entscheidung in die Tat umsetzen" (S. 152).

Die verhandelten Probleme finden ihre Zuspitzung in der
Erörterung des Verständnisses von Glaube und Rechtfertigung
. Krüger stellt bei Erasmus und Bucer eine doppelte
Rechtfertigung fest. Im Gegensatz zu Auffassungen Luthers,
der die Werke im Horizont der Rechtfertigung nicht zu akzeptieren
vermag, meint Krüger, für den Straßburger Reformator
konstatieren zu müssen i „Neben dem Glauben
schreibt Bucer dem Werk eine wesentliche Bedeutung für
den Prozeß der Rechtfertigung zu. Bucer verwahrt sich im
Psalmen-Kommentar gerade dagegen, die guten Werke aus
der Rechtfertigung auszuklammern" (S. 177). Der Vf. bezieht
sich für dieses wesentliche Thema auf seinen Lehrer
Stupperich, der schon vor ihm das Bemühen Bucers dahingehend
charakterisiert hatte, „Glauben und Werke in Einklang
zu bringen" (S. 182). Dabei handelt es sich nicht lediglich
um „terminologische Beeinflussung, sondern um ausgesprochene
Übernahme erasmischer Gedanken".

Ein Schlußkapitel verhandelt noch die erasmischen Elemente
in Bucers Abcndmahlslehre. Er will zwar die Realpräsenz
Christi im Abendmahl festhalten, aber wie bei
Erasmus meint Krüger (in der Nachfolge Krodels), auch für
Bucer eine subjektiv-ethische Vergegenwärtigung Christi
und die Behauptung einer objektiven Realpräsenz konstatieren
zu können (S. 224). Ganz deutlich wird hier nicht,
was wirklich gemeint ist und worauf substantiell die spätere
„Rolle des Vermittlers" gründet.

Einzelfragen an die Arbeit Krügers können den Dank für
diese Zusammenfassung des großen Themas „Bucer und
Erasmus" nicht schmälern. Bucer erscheint als der Theologe
einer versuchten großen „Synthese" (S. 227), u. a. auch zwischen
Luther und Erasmus. Wenn sie auch letztlich nicht
gelungen ist, so ist es bei ihm doch „zur Ausbildung einer
eigengeprägten Theologie" gekommen, deren Wirkungen in
der Reformationszeit und weit darüber hinaus nicht gut unterschätzt
werden können.

Berlin Joachim Rogge

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Coolidge, John S.: The Pauline Renaissance in England.

Puritanism and the Bible. Oxford: Clarendon Press 1970.
XIV, 162 S. 8". Lw. 42 s.

Die Studie will zeigen, wie in der 2. Hälfte des 16. Jh.s
sich in England eine Erneuerung biblischer, besonders pau-
linischer Gedanken vollzieht. Das Schwergewicht liegt bei
der Untersuchung auf den Anschauungen der Puritaner. Der
Vf. geht so vor, daß er den puritanischen Gedanken die der
Konformisten gegenüberstellt und sie vergleicht. Beide erkennen
die Autorität der Bibel an und werten das Bibelwort
als heilsnotwendig. Ein anderes Problem ist, wie weit
auch die Vernunft neben der Schrift, wie dies besonders bei
den Konformisten der Fall ist, eine Rolle spielt. Die Studie
macht deutlich, daß die puritanische Lehre zwar ihren
Schwerpunkt im Gehorsam gegenüber dem göttlichen Wort
hat, daß aber auch die Puritaner gegenüber den Äußerungen
des öffentlichen Lebens auf Vernunft und Einsicht bauen.
Vernunft und Schrift haben bei Konformisten wie Puritanern
dieselbe logische und verstandesmäßige Bedeutung, wobei
indessen die Voraussetzungen verschieden sind.