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Ausgabe:

1971

Spalte:

590

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hiers, Richard H.

Titel/Untertitel:

The kingdom of God in the synoptic tradition 1971

Rezensent:

Haufe, Günter

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589

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

590

auf die durch das Wunder geweckte Frage gibt. Markus und
Lukas — Vertreter des hellenistischen Typus — sind einzig
an Wundergeschichten interessiert. 3. Wunder haben den
Sinn: „Jesus befreit den, der ihm vertraut, von der Knechtschaft
des Bösen; er bricht die Macht des Dämonischen, der
Sünde, des Leidens und des Todes und führt aus der Angst
vor Hölle, Tod und Teufel zu Gerechtigkeit, Friede und
Freude im Heiligen Geist" (S. 25). 4. Wundergeschichten sind
unserem wissenschaftlichen Weltbild fremd. Der Zugang zu
ihnen ist nur mit mühevoller Reflexion zu gewinnen. — Nach
diesen Feststellungen gewinnt der Ausleger die Oberhand,
indem Schm. feststellt: „Dag solche Mühe sich lohnt, wird
hoffentlich die nun folgende Auslegung zeigen" (S. 30).

Das ist die Frage. So angenehm sich die modern und flüssig
geschriebene Darstellung liest, wird man an vielen Stellen
ein Unbehagen nicht los. Hat zur Zeit des NT das Wunder
immerhin als eine Alternative zum Wort, also als Anrede
, gelten können, so verstellt es heute weithin das Wort.
Da, wo Schm. akzeptable Aussagen findet, wären sie auch
ohne den Hintergrund der Wunder möglich. Und da, wo
eben doch nichts anderes geschehen kann, als Wunder zu
interpretieren, mißlingt — ich will nicht sagen i die Interpretation
, wohl aber die Anrede. So überzeugt z. B. nicht das
zu der Gerasa-Geschichte über die „Dämonen" Ausgeführte.
Identitätsverlust und Selbstentfremdung umschreiben eben
gerade nicht „genau jenes Phänomen, das unsere Geschichte
in plastischer Anschaulichkeit darstellt". Oder: Wie kann
ein Mensch des 20. Jahrhunderts urteilen, Markus habe „die
überlegte Anlage unserer Erzählung nicht in allen ihren
Feinheiten erfaßt"? (S. 44) . Welche „Feinheiten" mögen uns
entgehen — weil uns das Weltbild fremd ist, in dem Dämonen
eine Rolle spielen -, die für Markus wichtig gewesen
sein mögen? Man sollte die zutreffende Auskunft (S. 54):
«Wir sind . . . nicht notwendig auf diese Geschichten angewiesen
" wohl doch noch stärker unterstreichen. —

Eine weitere Anfrage: Baut Markus sein Evangelium
wirklich insgesamt so auf, „daß den Jüngern langsam und
in zunehmendem Maße die Augen darüber geöffnet werden,
wer Jesus ist"? Hat nicht schon Wrede gesehen, daß Markus
gerade nicht so psychologisch vorgeht, sondern vielmehr
das Jüngermißverständnis sich erst — und dann mit einem
Schlage — durch die Begegnung mit dem Auferstandenen
löst? — Diskutieren würde ich nicht die Frage des Geschmacks
, das Schlagerlied „Das kann doch einen Seemann
nicht erschüttern" einen ganzen Vers lang abzudrucken
(S. 61). — Eine ernsthafte theologische Rückfrage betrifft
die Aussage, das Wort vom Kreuz „lädt den Hörer ein, sich
ni i t Jesus kreuzigen zu lassen" (S. 67). Wenn das wirklich
so wäre — was ich nicht glaube; ich bin vielmehr davon
überzeugt, dafi das Wort vom Kreuz dem Hörer zuspricht,
dafi er mit Jesus gekreuzigt ist — wäre dann die Interpretation
zureichend i Das heißt, das Vertrauen auf sich selbst
fahrenzulassen und sich auf das Angebot Gottes einzulassen,
sich auf Gedeih und Verderb auf ihn zu verlassen"?

Über den Versuch, manche biblische oder theologische
Formulierung, die zur Leerformel zu erstarren droht, mit
Sprachmitteln des Existentialismus dem Leser nahezubrin-
9en, mag ich nicht streiten. Mir scheinen solche Beispiele
allerdings nicht immer gelungen: „Jesus sagt: ,In der Welt
habt ihr Angst' (Joh 16,33), und er meint damit, es könne
nicht anders sein als so, daß, wer in der Welt geboren wurde
, in die Angst hineingeworfen wird. In-der-Welt-sein ist
In-der-Angst-sein" (S. 62). Oder wenn die Formel „Glaube
" allein aus der Gnade Gottes leben" so verdeutlicht werden
soll: „ ,Glaube' bedeutet, sich radikal aus der Zukunft
Gottes verstehen, das heifit, mit seinem ganzen Leben in der
unverfügbaren Zukunft Gottes wurzeln" (S. 65). Ich gestehe,
dafi mir .Glaube' so nicht nähergebracht, nicht verständlicher
gemacht wird.

Daneben bestechen eine Reihe guter Formulierungen:
•Zwar hängen die neutestamentlichen Wundergeschichten

am Evangelium, nicht aber hängt das Evangelium des Neuen
Testamentes an den Wundergeschichten" (S. 29). „Der
Christ hat nicht anderswohin zu gehen, sondern als ein anderer
dahin, wo er auch vorher lebte" (S. 52). „Nicht das
Wunder führt zum Glauben, sondern der Glaube erfährt
Wunder" (S. 95).

Ein für Bibelarbeit, Bibelgespräch und Wunderdiskussion
in der Gemeinde gewiß gut zu benutzendes Büchlein.

Berlin Gerhard Bassarak

Hiers, Richard H. i The Kingdom of God in the Synoptic
Tradition. Gainesville: University of Florida Press 1970.
V, 107 S. gr. 8" = University of Florida Humanities Mo-
nograph, 33. $ 2.—.

Der Vf. setzt sich mit einer in den letzten zwanzig Jahren
dominierenden exegetischen Position auseinander, nämlich
mit der Auffassung, der historische Jesus habe das Reich
Gottes sowohl als zukünftig erwartet wie gleichzeitig in einem
bestimmten Sinne für schon gegenwärtig gehalten. H.
möchte dieser Hypothese gegenüber die ältere, von J. Weiß
und A. Schweitzer begründete Auffassung verteidigen, der-
zufolge Jesus das Reich Gottes streng eschatologisch verstanden
, d. h. sein Kommen in naher Zukunft erwartet hat.
H. verfolgt zunächst, auf welch unterschiedliche Weise von
der neueren Forschung das angebliche Nebeneinander des
Zukunfts- und des Gegenwartsaspektes im Reich-Gottes-Be-
griff Jesu interpretiert wird. Er argwöhnt hinter all diesen
Versuchen einer Ermäßigung bzw. Auflösung des rein es-
chatologischen Verständnisses ein dogmatisches Interesse,
das die theologischen Schwierigkeiten vermeiden möchte,
die mit der streng eschatologischen Interpretation notwendigerweise
verbunden sind. Er fordert demgegenüber die
präzise Unterscheidung zwischen historisch-kritischer Exegese
und theologischer Interpretation ihrer Ergebnisse.

Um nun die Richtigkeit des rein eschatologischen Verständnisses
darzutun, verfährt H. so, dafi er alle jene synoptischen
Jesusworte einer exegetischen Überprüfung unterzieht
, die von der neueren Exegese gern für die Hypothese
von der Schon-Gegenwart des Reiches Gottes in Anspruch
genommen werden. H. glaubt nachweisen zu können
, dafi in allen Fällen das rein eschatologische Verständnis
das einzig angemessene ist bzw. mit den betreffenden Texten
durchaus in Einklang steht. Dies gilt für Lk 17,20 f.;
Mt 12,28par.; Mt ll,12par.; Mk 3,27; Lk 10,17 f.; Mt 11,11
par. Gestützt wird diese Interpretation durch den Nachweis,
dafi das bekannte Naherwartungslogion Mt 10,23 zumindest
in seinem zweiten Teil auf Jesus selbst zurückgehen
muß und dafi darüber hinaus die sog. Reich Gottes-Gleich-
nisse sich mühelos dem streng eschatologischen Verständnis
einordnen lassen. Endlich wird gezeigt, daß auch die synoptischen
Evangelisten selbst trotz ihrer theologischen Differenzierung
ausnahmslos eine rein futurische Auffassung
vom Reiche Gottes besitzen. Abschließend wendet sich H.
gegen die Einführung unsachgemäßer Begriffe in die historische
Exegese, die an der synoptischen Überlieferung keinen
Anhalt haben. Dabei wird freilich zu wenig bedacht,
daß auch eine streng historische Exegese, wenn sie wirklich
interpretieren will, sich nicht nur der in den Texten gebrauchten
Begriffe bedienen kann. Im übrigen aber wird
man H. danken müssen, daß er auf einen kaum leugbaren
historischen Tatbestand erneut mit Nachdruck aufmerksam
gemacht hat. Nur schade, daß er die von ihm mit Recht als
selbständige Aufgabe erkannte theologische Interpretation
der exegetisch-historischen Ergebnisse offensichtlich anderen
überläßt.

Leipzig Günter Haufe