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Ausgabe:

1971

Spalte:

582-584

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Petuchowski, Jakob J.

Titel/Untertitel:

The theology of Haham David Nieto 1971

Rezensent:

Möller, Hans

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

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170 ff.) sucht K. im einzelnen die Priorität der Priesterschrift
vor D zu beweisen. Wichtige Punkte sind dabei das Fehlen
einer Vorschrift zur Kultuszentralisation bei P, die Stellung
des Hohenpriesters, die keinesfalls mit der der Priester des
zweiten Tempels übereinstimme, die Festgesetze, die einen
prädeuteronomischen Charakter hätten, und die Opfervorschriften
, welche recht altertümliche Züge trügen. Ausführlich
wird auf die Bedeutung des Offcnbarungszeltes eingegangen
, das nicht ein Symbol der Zentralisationsidce sei,
sondern die Vielfalt der Heiligtümer voraussetze und repräsentiere
. Es kann auf diese Punkte, bei denen eine
gründliche Auseinandersetzung mit, K. ansetzen müfjte, nur
hingewiesen werden. Hier wird eine Menge Material gebracht
, und es wird auch ausgewertet. Die Gesamtkonzeption
K.s, die im übrigen eine imponierende Geschlossenheit
hat, dürfte hier aber auch eine besonders anfällige Stelle
haben. Fällt diese Säule aus K.s Gedankengebäude, so ist
alles dahin.

Die zeitliche Priorität der gesamten Thora vor den Schrift-
propheten sucht K. auf mancherlei Weise zu begründen. Ein
wichtiges Argument ist, daß sich kein Einfluß prophetischer
Unterweisung in der Thora erkennen lasse. Man könne die
biblischen Bücher in zwei Gruppen aufteilen: 1) die Bücher
der Thora mit den historischen Büchern bis 2 Kön; 2) die
Propheten. Jeder Teil sei in sich selbständig, und es gäbe
keine Spuren des Einflusses der Lehren der zweiten Gruppe
auf die erste (S. 150). Die Propheten kündigten Israel das
Gericht wegen seiner moralischen Sünden an, die Geschichtsbücher
wenden sich jedoch gegen die Idolatrie, und für die
Thora sind der kultische Abfall und der Mangel an Glauben
die Nationalsünden Israels. Dieser Unterschied beruhe nicht
darauf, daß das moralische Niveau der Propheten zu hoch
war, um von den volkstümlichen priesterlichen Autoren verstanden
zu werden, sondern darauf, daß letztere, da ihre
Schriften älter sind, das Niveau der Propheten noch nicht
erreicht hatten (S. 151 f.). Daß die verschiedene religiöse
Akzentsetzung von jeweils verschiedenen z. T. in gleicher
Zeit wirkenden Kreisen getragen sein könne, wird von K.
nicht erwogen. Es muß einfach ein zeitliches Nacheinander
vorliegen.

Der Gedanke, dafj die Geschichtsbücher oder auch Pro-
Phctcnbüchcr einer deutcronomistischen Redaktion unterworfen
sein könnten, liegt K. völlig fern. So kann sich K. beispielsweise
darüber wundern, daß die ersten Visionen Jeremias
, die ja noch vor der Entdeckung des Gesetzbuches im
Tempel anzusetzen sind, bereits von Bildern und Ausdrük-
ken des Deutcronomiums durchtränkt seien (S. 377). An
e'nc deuteronomistischc Redaktion des Jeremiabuches, deren
Annahme sich hier einfach aufdrängt, denkt K. nicht.
Uberhaupt stellt sich K. das Werden der Prophetenbücher
rccht einfach vor. Die Prophetensprüche sind das Werk der
Propheten selbst, die Erzählungen das von Anhängern der
propheten (S. 327). Eine spätere Redaktion der Texte beschränkt
sich nur auf ihre Anordnung (S. 329). Davon geht
■» auch nicht ab, wenn in älteren Prophetenbüchern Verheißungen
der Rückkehr aus dem Exil stehen; es habe ja schon
vor 586 jüdische Diaspora gegeben (S. 330). So kann K. behaupten
, daß Jes 1-33 restlos von Jesaja verfaßt sei (S.
343 ff.). Ein Ansatz zu einer kritischen Sicht macht sich im-
rnerhin bemerkbar, wenn das Buch Hosea auf zwei verschiedene
Autoren aufgeteilt wird (S. 336 f.), Hosea I (Kap. 1-3)
und Hosea II (Kap. 4—14).

Weicht K. hier von den gewohnten Anordnungen ab, so
lst dies erst recht bei der Datierung der Bücher Hiob und
J°na der Fall. Das Buch Hiob ist wegen der archaischen
Prosa und des naiven Gottesbildcs vorexilisch (S. 319), und
das Buch Jona gehört in die Zeit Jerobcams IL, weil es einen
'■'ühen Univcrsalismus aufweise, welcher die vorklassische
Prophctie charakterisiere (S. 283).

Es ist zum Schluß zu fragen, auf welchen Voraussetzungen
vorliegende Konzeption der Religion Israels beruht. Die

Thora genießt im Judentum seit alters her eine höhere Wertung
als die anderen Schriften des Alten Testaments. Auf
die Behauptung ihrer Mosaizität mußte K. bei dem Stand
der heutigen Forschung zwar verzichten, aber er bewahrte
ihr doch einen Vorrang, indem er ihr eine zeitliche Priorität
einräumte. Wie kommt es aber zu der kräftigen Apologetik,
die das ganze Buch durchzieht? Es geht dem Vf. ja, um dies
einmal überspitzt auszudrücken, um die Rechtgläubigkeit
Israels von Anfang an und für alle Zeit. Die emotionale
Wurzel wird am Schlüsse des Buches enthüllt, wo K. auf die
beiden Zerstörungen Jerusalems zu sprechen kommt (S.
370 ff.). Die christliche Tradition sehe hierin die Strafe Gottes
für die schließlich im Tode Jesu kulminierenden Sünden
Israels. Aber die Unterdrückung und Korruption in Jerusalem
, welche die Propheten anprangern, seien nicht schlimmer
als anderswo gewesen, und von einem Abfall ins Heidentum
könne keine Rede sein.

Aus solcher Abwehrstellung heraus, die in Jahrhunderten
ungerechtfertigter Beschuldigungen des Judentums gewachsen
ist, wendet sich K. nun nicht nur gegen die christlichen
Exegeten, sondern auch gegen die Propheten selbst. So wird
einem Jeremia zur Last gelegt, seine Vorwürfe gegen Israel
(etwa in 6,13) seien übertrieben (S. 379), und er sei ein „ide-
aliste extremiste" (S. 380). Erst recht übertreibend und „pure
fantaisie" seien die Bildreden Ezechiels über die Hurerei,
d. h. den Götzendienst Jerusalems in Kap. 16 und 23. Die
Visionen über die verschiedenen Frcmdkulte in Jerusalem
in Kap. 8—11 seien eine Übersteigerung von Kindheitserin-
nerungen aus der Zeit Manasses (S. 384 f.). Seine wilde Antipathie
gegen die Hauptstadt lasse irgendein schweres persönliches
Ressentiment durchblicken (S. 386).

Wenn das Buch auch so manches Skandalon bereitet, so
liest es sich doch wegen seiner klaren Konzeption und wegen
seines flüssigen Stiles recht gut. Es greift unsere alt-
testamentliche Wissenschaft in ihren Grundlagen an, und so
mag es dazu anregen, diese Grundlagen erneut zu überprüfen
.

Berlin Ludwig Wächter

Petuchowski, Jakob J. i The Theology of Haham David Nieto.

An Eigtheenth-Century Defense of the Jcwish Tradition.
New and Revised Ed. New York: KTAV Publishing House
(1970). XIX, 166 S. gr. 8". Lw. $ 6.95.

N. ist 1654 in Venedig geboren und 1728 in London gestorben
, wo er seit 1701 Vorsteher der sephardischen Synagoge
war. Haham ist nicht Vorname, sondern ein Ausbildungstitel
, von den sephardischen Juden gewöhnlich ihren
eigenen Rabbis vorbehalten. P. meint, N. sei für das gesamte
englische Judentum tonangebend geworden, indem
er völlige Teilnahme am Leben der Umgebung mit Bewahrung
des Judentums in Glauben und Leben verband. So habe
er sowohl dem orthodoxen Judentum wie dem Reformjudentum
Wichtiges zu sagen.

P. hat 1954 seine Doktorarbeit über N. geschrieben. Deren
gegenüber der ersten Auflage kaum veränderte Neuausgabe
ist das vorliegende Buch. Wem jüdische Literatur nicht zugänglich
ist, kann sich über N. orientieren bei Joh. Chr.
Wolff, Bibliotheca Hebraeorum I (1715), S. 324 f; III (1727),
S. 201—205 und (auf Wolff beruhend) Zedlers Universallexikon
Bd. 24 (1740), Sp. 864 f. P. behandelt in 9 Kapiteln: Das
englische Judentum im frühen 18. Jh., den Menschen Nieto,
seine häretischen Vorläufer, die Rechtfertigung seines wissenschaftlichen
Vorgehens, Nietos Auffassung von Offenbarung
, Verteidigung vom mündlichen Gesetz, von Midrasch
und Haggada, seine Gottesauffassung und seine Bedeutung
in der Geschichte des Judentums.

N. will das spezifisch Jüdische: das von den Rabbincn
überlieferte mündliche Gesetz aufrechterhalten und seine
Gemeinde vor anderen Strömungen bewahren, die ihr gefährlich
zu werden drohten.