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Ausgabe:

1971

Spalte:

572-574

Kategorie:

Allgemeines

Titel/Untertitel:

In memoriam Paul Kahle 1971

Rezensent:

Körner, Jutta

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571

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 8

572

treten. H.-J. B i r k n e r skizziert in „Beobachtungen und
Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen
Theologie" (9-20) drei Typen des Religionsbe-
griffs, nämlich „Religion" als Leitbegriff undogmatischer
Definition des Christentums, als Programmbegriff thematischer
Entschränkung der Theologie und als kritische Benennung
unzulänglicher Definition des Christentums. Die
Beispiele sind vorwiegend dem 18. und 19. Jh. entnommen.

— H. Donner würdigt Semlers Kanonkritik, die, wie an
einem Vergleich des Kanonverständnisses bei Josephus und
der altprotestantischen Dogmatik gezeigt wird, einen „con-
sensus septendecimsaecularis" überholte, den klassischen
Kanonbegriff auflöste und ihn auf das Datum einer Sammlung
von der Kirche approbierter Schriften reduzierte. („Gesichtspunkte
zur Auflösung des klassischen Kanonbegriffes
bei Johann Salomo Semler", 56—68). — G. E b e 1 i n g untersucht
das Verhältnis von „Frömmigkeit und Bildung" als
das Lebensthema Schleiermachers (69—100). Anhand zahlreicher
Zitate, vor allem aus den Briefen, Reden und Monologen
, wird Schleiermachers Bemühen deutlich, Frömmigkeit
bzw. Religion und Bildung eng aufeinander zu beziehen
, ohne sie zu identifizieren. Hilfreich für das Verständnis
der komplizierten Thematik ist die Berücksichtigung des
biographischen Hintergrundes. — Mit Schleiermacher beschäftigt
sich ferner H.-W. Schütte („Christlicher Glaube
und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher", 291 bis
310). Schleiermachers Kritik der Weissagungsbeweise (Hengstenberg
) wird aus dem Bemühen erklärt, den Menschen
seiner Zeit „den Umweg zu ersparen, der, um die Erlösung
aneignen zu können, den Schritt in den Zustand vor der Erlösung
tun zu müssen meint". Das Verhältnis von Altem
und Neuem Testament, Judentum und Christentum ist weniger
antithetisch (Fichte) als vorbereitend zu verstehen. —
„Die neuere philosophische Anthropologie in ihrer Bedeutung
für das christliche Menschenverständnis" (101-125;
nicht „Menschenverhältnis", 101) untersucht H. Fischer,
indem er unter besonderer Berücksichtigung Schelers, Heideggers
und Rothackers, aber auch Sartres, Camus' und Gehlens
, nach Weltoffenheit und Selbsttranszendenz des Menschen
fragt. „Die Endlichkeit der menschlichen Existenz
enthält eine Frage, die über sich selbst hinausweist auf eine
neue Ebene." Wo diese, wie bei Scheler und Heidegger, erreicht
ist, könne man von säkularisierter Theologie reden.

— G. Sauter („Kommunikation und Wahrheitsfrage. Theologische
Werkstattprobleme", 263—290) unterscheidet drei
Typen theologischen Arbeitsstils: 1. den historisch orientierten
Stil, der in ständiger Bemühung um die Überlieferung
und in der Neuinterpretation die eigene Stellungnahme präzisiert
und expliziert; 2. die konfessorische Meinungsbildung
, deren Entartung in der gegenwärtigen Theologie Sauter
kräftig verdeutlicht; 3. die Tendenz, theologische Aussagen
durch Erkenntniss anderer Wissenschaften verifizieren
zu müssen. Trotz seiner Kritik am zweiten und dritten Typ
hält er deren Kombination für den angemessenen Modus
künftiger theologischer Arbeit. — In die Theologiegeschichte
führt wiederum D. R ö s s 1 e r, indem er schildert, wie Ludwig
Ihmels einerseits im Gegensatz zu Frank die Einheit
von Glauben und Wahrheitsbewußtsein für den einzelnen
Christen zu begründen suchte, andererseits gegenüber Herrmann
die Identität des christlichen Glaubens durch seine
Beziehungen auf die kirchliche Praxis erhalten wollte
(„Emanzipation und Kirchlichkeit. Aspekte der Praktischen
Theologie bei Ludwig Ihmels", 252—262). — Mit Erinnerungen
an „Karl Barth in Göttingen" (362—375) veranschaulicht
W. T r i 11 h a a s , wie Barth „die Identität von Evangelium
und Humanität zu leben bemüht war, mehr als alle Theorie,
die sich auf ihn berief". - G. Voigt („Wer bestimmt die
Tagesordnung?", 376—390) antwortet auf den Satz, die Welt
bestimme die Tagesordnung: Will man daran festhalten,
„dann muß man diesen Satz umschlossen sein lassen von
dem anderen, daß G o 11 die Welt auf die Tagesordnung gesetzt
hat" und darum auch bestimmt, was wir der Welt um
seinetwillen schuldig sind.

Drei Beiträge stammen aus dem Bereich der Bibel-
wissenschaften. „Zur Frage nach dem Gegenstand
einer Theologie des Alten Testamentes" (391—411) fordert
S. Wagner, diese habe von dem Vorhandensein verschiedenartiger
Theologien auszugehen, aber sich nicht in deren
Nachzeichnung zu erschöpfen, sondern weiterzufragen „nach
der Mitte des Alten Testaments, nach den bewegenden Kräften
, die bei aller Unterschiedlichkeit der Aussagen nicht von
Jahwe abführten, sondern immer wieder dem Anspruch und
Zuspruch Jahwes konfrontierten". — Eindrucksvoll zeigt W.
Z i m m c r 1 i, wie „Verkündigung und Sprache der Botschaft
Jesajas" (441—454) „mit all ihrer Brillanz und Wortmächtigkeit
ein dienendes Werkzeug der Botschaft von der
Hoheit und Freiheit seines Herrn in seinem geschichtlichen
Kommen" ist.

P. Stuhlmacher kritisiert anhand eines Aufsatzes
von G. Strecker und besonders des Jesus-Buches von H.
Braun einerseits die Nivellierung der kerygmatischen Geschichtsüberlieferung
auf das zwar keineswegs belanglose,
aber doch nicht heilschaffende Ereignis mitmenschlicher Begegnungen
und andererseits eine anthropologische Analytik
des Glaubensverständnisses, welche geschichtlich-christolo-
gischer Konkretion entbehrt (359). Zur verantwortlichen
Textauslcgung gehört ebenso eine auf die Nuancen der Textaussagen
bedachte, zuchtvolle historische Analyse wie der
Respekt vor der kirchlichen Tradition, zumal der Reformation
, der mit der kritischen Exegese unter einem jederzeit
offenen, selbstkritischen Wahrheitsbewußtsein zu verbinden
ist („Kritische Marginalien zum gegenwärtigen Stand der
Frage nach Jesus", 341—361).

Schließlich sei darauf hingewiesen, daß auch der von Doer-
ne sehr geschätzte Rilke Beachtung fand. K. Hamburger
interpretiert Rilkes Umdeutung der Geschichte vom Verlorenen
Sohn, die der Dichter verstand als die Legende dessen
, der nicht geliebt werden wollte („Die Geschichte des
Verlorenen Sohnes bei Rilke", 126—143).

Mit dieser reichhaltigen Festschrift haben Herausgeber
und Autoren ihrem Lehrer und Freund Martin Doerne kurz
vor dem Abschluß seines Lebens eine würdige Ehrung und
sicher auch eine große Freude bereitet.

Halle/Saale Eberhard Winkler

[Kahle, Paul:] In Memoriam Paul Kahle, hrsg. v. Matthew
Black u. Georg Fohrer. Berlin i Töpelmann 1968. VIII, 253
S„ 20 Taf., 1 Porträt gr. 8 = Beiheft zur Zeitschrift für die
alttestamentl. Wissenschaft, hrsg. v. G. Fohrer, 103. Lw.
DM 86,-.

Dieser Sammelband, der 28 Aufsätze enthält, ist dem Gedenken
des großen Gelehrten und Lehrers Paul Kahle von
seinen Schülern und einstigen Kollegen gewidmet. In der
Vielfalt der Themenwahl aus der Orientalistik, insbesondere
aus den Gebieten des Alten Testamentes, der Judaica und
Islamica, spiegelt der Gedenkband zugleich das gro5e Arbeits
- und Interessengebiet des Altmeisters „der europäischen
Orientalistik" wider. M. Black würdigt in seinem Vorwort
P. Kahle so: „Kahle was, for nearly a generation be-
fore his death, the doyen of European Orientalists. ... He
was filled with an unbounded zeal for his subject and in his
total dedication to his chosen life work he never spared
himself. Zeal for his subject, ..., and painstaking industry
were only part of Kahlc's greatness as a scholar."

Der erste Beitrag, verfaßt von H. S. Nyberg, Paul Kahle
(S. 1—2), zeichnet in aller Kürze den Lebensweg des Gelehrten
auf. Kahle begann mit dem Studium der Theologie und
widmete sich vor allem dem AT und dem biblischen Hebräisch
wie auch den anderen semitischen Sprachen. Als junger
Pfarrer diente er der deutschen Gemeinde in Kairo (1903 bis
1908). Der Kairoer Aufenthalt war für ihn von entscheiden-