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Ausgabe:

1971

Spalte:

551-553

Kategorie:

Liturgiewissenschaft, Kirchenmusik

Titel/Untertitel:

Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1971

Rezensent:

Nagel, William

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Theologische Litcraturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

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LITURGIEWISSENSCHAFT

Jahrbuch für Lilurgik und Ifyinnologic. 14. Bd. 1969. Hrsg.
v. K. Ameln, Chr. Mahrenholz, K. F. Müller. Kassel: Stauda
-Verlag 1970. XV, 280 S. m. (i Taf. u. 6 Abb. gr. 8°.

Im Unterschied zum Vorjahr wenden sich diesmal die
Hauptbeiträge wieder historischen Themen zu. Aus dem Bereich
der Liturgik macht 0. Jordahn mit „Georg Friedrich
Seiler — dem Lilurgiker der deutschen Aufklärung" (S.
1—62) bekannt. Vf. kann aus einer Fülle detaillierten Wissens
schöpfen, da S.s gesamte kirchliche und praktisch-theologische
Wirksamkeit der Gegenstand seiner Erlanger Dissertation
(1967) ist. Diese angeregt zu haben ist ein Verdienst
von Prof. 1). Klaus; denn es handelt sich bei S. auch nach
W. Ellerts nüchternem Urteil um einen Theologen von s. Zt.
„europäischem Ansehen". Insofern wir heute im Begriff stehen
, das allzu sichere totale Verdikt über die liturgischen Bemühungen
jener Zeit zu revidieren, ist es von Wichtigkeit,
in S. einen Reformer kennenzulernen, der geradezu eine „liturgische
Bewegung" ausgelöst hat und doch zugleich deren
kirchlich verantwortbare Möglichkeiten nicht aus den Augen
verlor. Vf. sieht in ihm mit Hecht, wie das seine Darstellung
erweist, den „typischen Vertreter jener kirchlichen Vermin -
lungstheologie", „die den breiten Strom des kirchlichen Alltags
in der Aufklärungsepoche bildet". In seinen liturgischen
Bemühungen leitet ihn nicht ein grundsätzlich neues Verständnis
des Gottesdienstes, sondern das Bestreben, diesen
den Forderungen anzupassen, wie sie sich aus der gleichzeitigen
Gemeindesituation und kulturell-gesellschaftlichen Umwelt
ergeben. Es geht S. also um zeitgemäße Formen für den
im Sinn des orthodoxen Schriftverständnisses vorgegebenen
Inhalt der Liturgie, um Formen, die „ein klein wenig zur Beförderung
eines christlich biblischen und vernünftigen Gottesdienstes
heytragen helfen". Daß seine Bemühungen die Zeitgenossen
in einem unbewußt längst vorhandenen Unbehagen
an den überkommenen Gottesdienstformen angesprochen
haben, erweist das lebhafte Echo seiner Veröffentlichungen.
Schnell fand er eine weitreichende Gefolgschaft, und in überraschend
kurzer Zeit wurde die Frucht dieser liturgischen Bewegung
in der Umgestaltung der agendarischen Ordnungen
allenthalben sichtbar. S.s liturgische Werke bilden übrigens
nur einen Ausschnitt aus seinem vielseitigen literarischen
Schaffen, das zuerst systematischen Problemen und deren
katechetischer Auswertung galt; sie erscheinen zwischen
1780 und 1790 und dann wieder 1801 und 1807. Ihrer Wirkung
kam zugute, daß ihr Vf. von den Befürwortern liturgischer
Reformen als ein Mann geschätzt wurde, der außer
der nötigen Fachkunde vor allem „bey einem grossen Theil
des christlichen Publikums vieles Vertrauen besaß", „da er
theils mehr als irgend jemand bisher an der Verbesserung der
Volksreligion gearbeitet theils das Ansehen hat, daß auch
Störrigere eher von ihm als manch anderen Weisung annehmen
möchten".

Ohne hier auf Einzelheilen eingehen zu können, möchte
ich doch einiges hervorheben, was vielleicht angesichts heutiger
liturgischer Reformbestrebungen Beachtung verdient:
nicht eine vorgefaßte Idee, sondern das praktische Bedürfnis
seiner Zeit bestimmt S.s liturgischen Beformwillen. Sein
„Liturgisches Magazin", das Publikationsorgan der durch
ihn wachgerufenen liturgischen Bewegung, begründet er 1784,
weil gottesdienstliche Reformen nicht nur „eines Mannes
Werk" sein können, sondern „zusammengesetzte Kräfte"
verlangen. Als die neue Bewegung über das erste Stadium des
Experimentierens hinaus ist, aber auch Einseitigkeiten und
Überspitzungen in Erscheinung treten, schafft, S. die auf
künftige Erweiterung angelegte „Allgemeine Sammlung liturgischer
Formulare der ev. Kirchen" (1787). Darin werden
bereits öffentlich anerkannte neue Formulare zusammen mit
guten alten veröffentlicht, nicht ohne daß der Herausgeber
das gesamte Material oft tiefgehend „verbessert". Indem somit
dieses gleichsam dem Experimentierfeld entnommen
wird und den Anschein guter kirchlicher Ordnung und überregionaler
licdeutung gewinnt, arbeitet S. bewußt auf ein
gesamtevangelisches Agendenwerk für den deutschenSprach-
raum hin. Auf Grund von Erfahrungen mit stark rationalistisch
bestimmten neuen Liturgien erklärt er dabei (im III.
Itd. der „Sammlung"), infolge der Wichtigkeit liturgischer
Formulare für den Glauben sei es „höchst nöthig..., daß die
(Konsistorien und Vorsteher der Geistlichkeit über die Liturgie
mit der größten Sorgfalt wachen". Er selbst hat um seine
Verantwortung in dieser Hinsicht als wissenschaftlich arbeitender
praktischer Theologe gewußt: „Je verschiedener die
Vorstellungen sind, welche sich die Lehrer und Mitglieder der
ev. Kirchen von diesen Heligionshandlungen machen, desto
mehr gewissenhafte Überlegung war nötig, um die Frcyheit
im Denken über diese Materialien nicht in zu enge Grenzen
einzuschließen und doch der Wahrheit, wie sie in den neutest.
Schriften ausgedrückt ist, nichts zu vergeben". Aber er erkennt
, daß die offenbarte Wahrheit, soll sie den Menschen
in seiner Ganzheit ansprechen, nicht nur rational, sondern
auch sinnlich ihm vermittelt werden muß. Dabei müssen die
liturgischen Formen nicht der Kirche als ganzer, sondern den
Bedürfnissen der konkreten Einzelgemeinde angemessen sein.
Sie gilt es, aktiv in das gottesdienstliche Geschehen einzube-
ziehen. Letzten Endes wird ihm die Liturgie zum Mittel „zur
Herbeiführung einer echten inneren (Ina Saneta jenseits der
Konfessionsgrenzen", indem er ihr in der in den ersten Jahrhunderten
erreichten Gestalt, wie er diese verstand, normierende
Funktion auch für die Gegenwart zuerkannte.

Im Ergebnis dieser sorgfältigen Untersuchung wird deutlich
: die Aufklärungslheologie und -frömmigkeit, wie sie
durch S. wirksam geworden ist, bedeutet weder einfach einen
Bruch gegenüber der ihr vorangegangenen Epoche, noch ist
sie ohne Wirkung auf die Folgezeit geblieben. Jedenfalls hat
sie einer konfessionell indifferenten Kirchlichkeit vorgearbeitet
, wie sie seit dem 19. Jh. in steigendem Maß zu beobachten
ist.

Im hymnologischcn Hauptteil gibt Markus Jenny den Teil-
Vorabdruck einer Monographie über „Die Lieder Zwingiis"
(S. 63—102). Eine solche ist darum zu begrüßen, weil für die
Vielzahl der Probleme, wie sie sich bei der Vorbereitung der
kritischen Fdition im Corpus Heforrnatorum zeigten, deren
Behandlung nur in der dort vorgesehenen Einleitung nicht
ausreicht. Zunächst nimmt der Vf. zur Oberlieferung und

Echtheit von Zw.s Liedern Stellung: Originalhandschriften

fehlen; ein einwandfreier Text kann nur aus den besten Lesarten
in Abschriften und Drucken gewonnen werden. Das
Kappeler Lied ist nach Text und Melodie am besten bezeugt,
weniger gut das Pestlied, am schlechtesten das Lied über
Ps. 96, dessen Echtheit darum auch bezweifelt werden konnte
. Aus stilkritischen Erwägungen wird man es aber Zw. nicht
absprechen können. Soweit er nicht auf vorhandenes Melodiengut
zurückgegriffen haben sollte, darf er als Autor auch
der Melodien gelten. Da die dichterische Qualität des Reformators
auf ein ausgedehnteres poetisches Schaffen sehließen
läßt, befaßt sich der 2. Abschnitt mit fraglichen und verlorenen
Liedern. Doch über Wahrscheinlichkeiten kommen hie*

des Vf.s subtile Untersuchungen nicht hinaus. Der .'!. Abschnitt
forscht nach mehrstimmigen Liedkompositionen. H"
4. Abschnitt wird dann der Urtext der drei zweifellos echteO
Lieder festgestellt. Ein letzter Abschnitl fragt nach der „Bestimmung
und Bedeutung der Lieder Zw.s". Sind sie Kirchenlieder
? Das Pcstlied ist. jedenfalls ein Sololied für llniis-
und Gesellschaftsmusik im kleinen Kreis. Das Psalmlied entspricht
auch nicht wie Luthers Psalmlieder dem Stil deut*
sehen Volksgesangs. Der Humanist versteht den Ps. in seinem
ursprünglichen Sinn als individuelles Glaubenszcugn's
und wählt darum die stark affektbetonte Form des lloflie"
des. Nur einmal ist in der Folgezeit der gleiche Weg über/engend
beschritten worden, nämlich in dem von liurkard Wal'
dis während seiner Gefängnishaft (1536/40) gedichteten Psalter
. Auch das Kappeler Lied, für welches der Vf. üben'.'1'