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Ausgabe:

1971

Spalte:

540-542

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lehmann, Martin

Titel/Untertitel:

Synoptische Quellenanalyse und die Frage nach dem historischen Jesus 1971

Rezensent:

Matthiae, Karl

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

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Zerrüttung gewähren muß, kann nicht als selbstverständliches
Recht von einen Vertrag schließenden und über seine
Dauer verfügenden Parteien, sondern muß als in Schuld
gründendes Scheitern an dem von Gott gewährten und auf
Unverbrüchlichkeit hin verfügten Stand betrachtet werden.
Nicht um dem zu widersprechen, sondern um weiter zu Bedenkendes
zu markieren, sei hier immerhin gefragt, wieweit
das Eherecht des religiösen neutralen Staates an einer so stark
im christlichen Glauben wurzelnden Eheauffassung orientiert
werden kann. Auch die These der Unverfügbarkeit
bedürfte in der heutigen Diskussionslage, die von soziologischer
Entdeckung des geschichtlich-menschlichen Charakters
der Institutionen bestimmt wird, eingehenderer Begründung
und Differenzierung. Ahnliche Fragen erweckt der folgende
Aufsatz „Die Todesstrafe als theologisches Problem" (1966;
II, S. 184—263), der längste beider Sammlungen, nach Gewicht
und Umfang eigentlich schon eine Monographie. Auch
hier setzt Gloege mit einer ausführlichen, in die soziologischen
Hintergründe und kontextualen Zusammenhänge eindringenden
Analyse des biblischen Materials ein. Es folgt
eine geraffte Darstellung der wichtigsten theologischen Stimmen
pro et contra in Vergangenheit und Gegenwart. Durch
die eigene Entwicklung Gloeges zieht sich zentral die Auseinandersetzung
mit Barths christologisch begründeter Ablehnung
der Todesstrafe. Gloege stimmt ihr darin zu, daß auf
(irund des Kreuzes Christi die Todesstrafe nicht mehr von
der Sühne her begründet werden kann (wie überhaupt keine
Strafe menschlichen Rechtes). Denn das Kreuz ist die definitive
Trennung dessen, was in der alttestamentlichen Theo-
kratie noch zusammengebunden war: des göttlichen Gerichtes
über die Untat als Sünde und des menschlichen Gerichtes
über die Untat als Verbrechen. Dem menschlichen Strafrecht
ist damit seine „Weltlichkeit" gegeben. Dennoch bleibt
es für Gloege eine „Institution" Gottes, als solche „unverfügbar
", das heißt nicht einfach der gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit
überlassen. Zwar handelt es sich in ihm nicht um
„Sühne", wohl aber um „Vergeltung" (der Sinn dieser Unterscheidung
bedürfte m. E. weiterer Klärung). Im Rahmen
dieser Gedanken behält für Gloege nicht nur die Rechtsstrafe
überhaupt, sondern für den Mord auch die Todesstrafe die
Dignität einer Verfügung Gottes, die man im Grunde weder
immanent begründen noch „abschaffen" kann; und zwar vor
allem auf Grund von Gen. 9,6, worin Gloege trotz auch hier
erklärter Absage an ein gesetzliches Entnehmen ethischer Anweisungen
aus biblischen Dicta offenbar eine unüberholbare
Grundordnung sieht. Er übersieht dabei nicht die in der heutigen
Situation verschärfte Problematik der Todesstrafe.
Seine Überlegungen münden aus in den Vorschlag: Der Staat
bekenne sich zu dem ihm von Gott auferlegten Recht, sie zu
verhängen, setze aber die Ausübung dieses Rechtes aus. Ob
damit nicht doch dem heutigen Staat Kategorien zugemutet
werden, in denen er sich nicht mehr selbst verstehen kann
(sondern allenfalls die Christen ihn verstehen können) ? Und
ob wir in einem vom Evangelium bestimmten Verständnis
biblischer Gebote wirklich genötigt sind, nicht nur menschliches
Strafrecht als solches, sondern die Verhängung dieser
bestimmten Strafart für bestimmtes Vergehen als menschlicher
Abschaffung unverfügbare Institution Gottes zu verstehen
? Auch wer solche Fragen nicht unterdrücken kann,
wird zugeben: wenn es sich irgendwo ein Autor mit einem
Problem nicht leicht gemacht hat, dann Gloege hier mit diesem
. Mit zwei Arbeiten zur Offenbarungsproblematik wird
die Sammlung abgeschlossen. Der Überblick „Zur Geschichte
des Schriftverständnisses" (II, S. 263—292, deutsche Fassung
eines Artikels „Bible use" für die von J. Bodensieck in Amerika
herausgegebene Enzyclopedia of the Lutheran Church)
präludiert dem großen Aufsatz „Offenbarung und Überlieferung
" (1954; II, S. 293-329). Er wird von Gloege selbst als
„dogmatischer Entwurf" bezeichnet und gibt Einblick in den
prinzipiellen Ansatz seines theologischen Denkens. Auf einen
Vortrag auf dem Berliner Theologentag 1954 zurückgehend
wurde dieser Aufsatz erstmalig inThLZ 1954 veröffentlicht.Sein

Akzent liegt nicht so sehr auf der Antithese als vielmehr auf
der Verbindung und Zusammengehörigkeit von Offenbarung
und Überlieferung. Offenbarung ist in Christus konkret in
menschliche Gestalt und Geschichte eingegangen und begründet
damit Überlieferung nicht nur als aktuelles Weitergeschehen
von Wort und Glauben, sondern, davon unabtrennbar
, auch als „historische" Tradition in der Horizontale des
der Endoffenbarung des Eschaton entgegenlaufenden Chro-
nos — ein Motiv der Auseinandersetzung Gloeges mit einem
rein aktualistischen Existentialismus, das auf eine andere
Problemstellung bezogen auch in der (ungefähr derselben
Zeit entstammenden) Abhandlung über den Personalismus
als theologisches Problem begegnete.

So sehr man beklagen wird, daß dieser uns zu früh entrissene
Theologe uns kein größeres zusammenhängendes Werk
mehr schenken konnte, so dankbar nehmen wir das Vermächtnis
seiner Lebensarbeit in diesen beiden Aufsatzbänden
entgegen. In der Vielfalt ihrer Thematik geben sie doch einen
Einblick in die innere Geschlossenkeit des in allem, womit er
sich auseinandersetzte, zutiefst von dem reformatorischen
Verständnis des Evangeliums geprägten theologischen Denkens
und kirchlichen Wollens von Gerhard Gloege. Sie geben
zugleich Einblick in seine in diesem Verständnis gegründete
und ausgerichtete und gerade darin vorbildliche Aufgeschlossenheit
für die geistigen, sozialen und politischen Probleme
der Gegenwart.

Ich hoffe, daß diese Besprechung davon etwas sichtbar
machen konnte.

Erlangen Wilfried .Inest

1 Im Folgenden als „I" zitiert.
■ Im Folgenden als „II" zitiert.

Lehmann, Martin: Synoptische Quellenanalyse und die Frage
nach dem historischen Jesus. Kriterien der Jesusforschung,
untersucht in Auseinandersetzung mit Emanuel Hirschs
Frühgeschichte des Evangeliums. Berlin: de Gruytcr 1970.
XII, 218 S. gr. 8° = Beiheft z. Zeitschrift f. d. neutesta-
mentl. Wissenschaft u. d. Kunde der älteren Kirche, hrsg.
v. W. Eltester, 38. Lw. DM 42, — .

In einer leicht überarbeiteten Dissertation greift M. Lehmann
das Problem der Quellenscheidung, das durch neuere
Fragestellungen zurückgedrängt worden ist, wieder auf und
sucht einen methodischen Zugang zu historisch verläßlichen
Nachrichten über Jesus zu ermitteln. Seine Untersuchung beschränkt
sich auf die Synoptiker. Gegenstand der Auseinandersetzung
sind ihm die beiden Bände der „Frühgeschichte
des Evangeliums" von E. Hirsch.

Einleitend weist der Vf. auf H.s theologisches Interesse an
der Jesusforschung hin und betont, daß H. sich der Litcrar-
kritik als Methode für die Erforschung des historischen Jesus
bedient. In einer gedrängten Zusammenfassung führt er dann
die von II. vollzogene Quellenscheidung vor: Danach unterscheidet
H. bei Markus zwei Erzählungsschichten (Mk. I
u. II), bei Lukas und Matthäus Vorlagen, die sämtlich Kvan-
geliengestalt besaßen und schriftlich überliefert waren. Das
Hauptinteresse liegt bei Mk. I, einem Augenzeugenbericht
des Petrus. Anschließend wird H.s Ansicht über das Werden
der Evangelien in ihren verschiedenen Stadien vorgetragen.
Dabei werden der Charakter der einzelnen „Evangelien" und
die darin enthaltene Christologie skizziert. Durch diese Quel"
lenscheidung will IL den ursprünglichen Bericht sowie echtes
Jesusgut herausarbeiten, zugleich aber auch die späteren Erweiterungen
zeigen. Anhand der von II. vorgenommenen Einordnung
der Wunder Jesu sucht L. das Verfahren darzulegen,
das II. bei der Quellenscheidung anwendet.