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Ausgabe:

1971

Spalte:

531-532

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wachinger, Lorenz

Titel/Untertitel:

Der Glaubensbegriff Martin Bubers 1971

Rezensent:

Winter, Friedrich

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Seite 1

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531

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

532

Hohoff, Curt: Peter Weiß und sein dramatisches Werk (Uni-

versitas 25, 1970 S. 577-584).
Künkler, Horst: Die Rede vom Bild. Reflexionen zu Max

Frischs Roman „Stiller" (Evangelische Kommentare 4,

1971 S. 39-42).
Sera, Manfred: Der Dichter Robert Musil — Reflexionskunst,

Utopie und Philosophie (Universitas 25, 1970 S. 921-927).

PHILOSOPHIE,
RELIGIONSPHILOSOPHIE

Wachinger, Lorenz: Der Glaubensbegriff Martin Bubers.

München: Hueber [1970]. 298 S. gr. 8°= Beiträge zur ökumenischen
Theologie, hrsg. von N. Fries, 4. DM 40, — .

In der Münchener Dissertation steht mehr, als der Titel
besagt. Der Vf. berührt Martin Bubers gesamtes Denken,
spürt seinen Einwirkungen auf die christliche Theologie vor
allem in Europa nach und beginnt einen Dialog, der in die
Auseinandersetzung der heutigen Theologie einzugreifen versucht
. „Martin Buber, einer der großen jüdischen Denker unserer
Zeit, hat auf seine Weise das Gespräch ... eröffnet.
Daß... das Suchen nach Antwort... an Israel in Gang komme
, dazu will das Buch beitragen" (S. 3). Auch unter diesem
Aspekt handelt es sich um die ausführlichste Monographie,
die bisher zum Werk Bubers vorliegt.

In seinen Frühschriften äußert sich B. jenseits philosophischer
Form u. a. durch „Interpretation religiöser und mystischer
Texte" (S. 51). Die „Leitmotive in seinem frühen
Werk" (I. Kap., S. 30—52) sind „die mystisch erlebte Allverbundenheit
des Menschen... das Motiv der Tat und Verwirklichung
... die Verknüpfung von Gott und Gemeinschaft"
(S. 50). — In den dann folgenden Schriften zum dialogischen
Prinzip, die neben chassidischer Literatur auch die hebräische
Bibel zur Klärung heranziehen, tritt der Gottesgedanke
deutlicher hervor (II. Kap. „Die Philosophie des Dialoges",
S. 53—90). Gottes Weltverbundenheit wird mit seiner Personalität
und Transzendenz zusammengedacht. Der Mensch
erfährt in der konkreten Situation Gott als das wirkende Du.
Offenbarung bedeutet entsprechend ein „umformendes Beziehungsereignis
" (S. 88), in dem das Ich Gott und Mitmensch
im doppelten Dubczug begegnet. Das Ich geht glaubend
in den Akt zwischenmenschlichen Lebens ein. — „Die
Glaubensgeschichte Israels" (III. Kap., S. 91—142) basiert
auf dem dialogischen Glauben des Abraham und Mose, die
als Einzelne und im Augenblick Umkehr erleben und damit
für Gottes Geschichtslenkung sorgen. Als Volksgeschichte
wird dieser Glaube ernst genommen oder abgelehnt: Von dieser
Prämisse aus wird das gesamte Alte Testament mit seinen
verschiedenen Traditionsschichten verstanden. Die Chas-
sidim verwirklichen in der Gegenwart, im Augenblick die
Erlösung der Welt und verrichten damit das messianische
Werk, während der Pscudomessianismus die Zukunft zu seinem
utopischen Tummelplatz macht. U.a. hat auch Jesus
teil am messianischen Werk. — Das IV. Kap. ist für des Vfs.
Gespräch mit B. entscheidend: „Zwei Glaubensweisen" (S.
143—204). Echter Glaube hat es immer „mit der Ganzheit
meines Seins" (S. 147) zu tun. Dennoch hat er zwei Grundformen
: Emuna und Pistis. Das „Beharren im Bund Gottes
mit dem Volk" steht dem Akt des „Nun-mehr-für-wahr-Hal-
tens" (S. 147) gegenüber. Während Jesus und die Synoptiker
den Glaubensbegriff des Alten Testaments kennen, vertreten
Paulus und Johannes die griechische Glaubensweise und haben
damit das Christentum vom Judentum distanziert. Paulus
ist marcionitisch zu verstehen. Gegen diese Auffassungen
führt Vf. im Anmerkungsteil bereits einen exegetischen Zitatenstreit
mit Hilfe heutiger christlicher Exegcten. Die Darstellung
geht dann jedoch bald in eine systematische Auseinandersetzung
über, die mit einer geistesgeschichtlichen Einordnung
B. beginnt. Das Motiv zur Ganzheit fordert die Einheit
von Glauben und Werken heraus. Die Einung mit Gott
im Dialog führt zur Ablehnung der Mittlerfunktion Christi.
Die Erbsündenlehre beeinträchtigt die Freiheit des Menschen
. Ekklesiologisch gesehen symbolisiert Israel die Einheit
von Natur und Geist, Volk und Glaube gegen eine individualistische
und spiritualisierende Tendenz, wie sie Paulus dem
Christentum aufgeprägt habe. Vf. urteilt: „Die Gegenüberstellung
von hebräischer Emuna und frühchristlicher Pistis
... erscheint im Ganzen als Konstruktion, die einer exegetischen
Prüfung nicht standhält... Aber... der Wert der...
aufgeworfener Probleme" ist davon nicht betroffen. Denn B.s
Gedanken haben „zu einer neuen Akzentuierung des Glaubensbegriffs
in der christlichen Theologie geführt" und das
Problem einer „für Israel verständlichen" Christusformulic-
rung erneut klargemacht (S. 204). — Diese Überlegungen
bestimmen dann das letzte, V. Kap.: „Theologische Einordnung
" (S. 205—288). Die Spannungen in B.s reifem Glaubensbegriff
bestehen darin, daß er die Zuwendung zu Gottes Wesenheit
und die Verwirklichung in der Welt, das Gegenwartsleben
und den Bezug auf Vergangenheit und Zukunft, die unmittelbare
Beziehung und die inhaltliche Auffüllung des
Glaubens, aktuelles und kontinuierliches Glauben zusammenzuhalten
sucht. „Zu einer abschließenden und umfassenden
Bestimmung seines Glaubensbegriffs kommt Buber
nicht" (S. 222). Da er kaum eine Wirkung auf das Judentum
selbst gehabt hat, geht Vf. sehr schnell zu einem Vergleich
mit wichtigen Loci der christlichen Theologie über. Die katholische
Theologie berührt sich mit B. besonders, wo es um
den Ausgleich von Immanenz- und Transzendenzdenken
geht. Für den Offenbarungsbegriff bestehen Motivkontakte
mit modernen Theologen besonders im evangelischen Bereich
. In der Gnadenlehre steht B. Pelagius nahe, auch heutigen
katholischen Theologen. Das trifft auch für den Glau-
bensbegriff zu. Die entscheidende Differenz bricht in der
Christologie auf. Das jüdische und christliche ekklesiolo-
gische Denken decken sich in B. Aussagen zwar nicht; aber
von ihm kann die Gemeinschaftsbezogenheit gläubigen Lebens
gelernt werden. — Ein knapper Schluß (S. 289 f.) formuliert
sechs Probleme, die B. der christlichen Theologie
aufgibt: Glaube ist nicht nur Tat Gottes, sondern auch freie
Tat der Menschen; das Gnadenhandeln des Glauhensschließt
den Menschen als Aktzentrum nicht aus; der Glaube ist sozial
bezogen; Gottes Du darf nicht durch den Christusglauben
verdrängt werden; Erlösung hat eine kosmische und
eschatologische Dimension; Glaube ist auf Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft hin zu orientieren.

Positiv ist die breite 0ueuenauswanl des Vfs. aus Bubers
Werk sowie der Versuch einer subtilen Interpretation zu beurteilen
. Jedoch quillt trotz immer wieder eingestreuter methodischer
Überlegungen und instruktiver Zusammenfassungen
der Stoff besonders gegen Ende zu sehr in die Breite. Die
Auswahl der verschiedenen und zahlreichen christlichen Theologen
wirkt elektisch, wenn Vf. hier mehr evangelische,
dort mehr katholische Autoren in den Dialog einbezieht. Es
ist auch die Frage, ob alle genannten Theologen richtig zitiert
sind, z. B. H. Braun (S. 239). Die Anlage des Buches führt
zu Wiederholungen, die nicht immer nur vertiefend wirken.
Druckfehler tauchen kaum auf.

Die formalen Anfragen werden durch das reiche und
fruchtbare Gespräch, das in immer neuen Reflexionen differenzierend
gesucht wird, überboten. B.s Nähe und Distanz
zur heutigen katholischen Theologie wird deutlich gemacht.
Während er zur sog. „Dialektischen" und reformatorischen
Theologie kein enges Verhältnis gehabt zu haben scheint»
gibt es doch zu vielen evangelischen Theologen Motivverbindungen
im einzelnen. Ob diese Urteile gerechtfertigt sind,
wird weiter zu fragen sein.

Rüdersdorf bei Berlin Friedrich Winter