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Ausgabe:

1971

Spalte:

524-526

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Weigelt, Horst

Titel/Untertitel:

Erweckungsbewegung und konfessionelles Luthertum im 19. Jahrhundert 1971

Rezensent:

Mau, Rudolf

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Die Praxis der Kirchenzucht in Genf wird im 4. Kap. mit
aller Anschaulichkeit gezeichnet. Die „Artikel" von 1537 verpflichteten
schon alle Bürger zu einem Lehen nach dem Maßstab
des Wortes Gottes. Dieser erste Versuch schlug fehl und
lief auf die Verbannung Calvins und mehrerer seiner Kollegen
hinaus. Die ruhigen Jahre in Straßburg, in der kleinen französischen
Gemeinde verbracht, waren für Calvin auch in pastoraler
Hinsicht bedeutungsvoll. Hier gab es ein anderes
Klima, Calvin hat hier Takt und Geduld lernen können, die
Kirchenzucht in Straßburg verläuft milder. Nach der Rückkehr
regeln die „kirchlichen Ordnungen" von 1541 die Sache
in Genf näher. Pastoren und Älteste bilden das Konsistorium,
zum Verdruß Calvins war der Einfluß der Obrigkeit noch
weit größer, als sein Ideal war. Nach dem „Siege" Calvins
werden die „Ordnungen" revidiert und abermals der Einfluß
der Obrigkeit auf die Zuchtübung zurückgedrängt. Sowohl
der Rat von Genf als Calvin hielten bis ans Ende an ihrem
Recht fest; wenn schon das Ideal nicht erreicht wurde, so bat
sich Calvin mit dem Erreichten redlich zufrieden gegeben.

Die Kirchenzucht griff allmählich tiefer in das Genfer Leben
ein. Es gab manchen harten Anstoß, gereichte aber vielen
zur Erbauung. Predigt, Pastorat und Kirchenzucht haben
Genf ein anderes Gesicht gegeben. An einer Reihe von konkreten
Fällen wird uns die calvinische Praxis anschaulich
gemacht.

Calvin hat bei den Pfarrern einen hohen Maßstab angelegt
, es ist folgerichtig, daß der Autor der Kirchenzucht, soweit
sie die Pfarrer betraf, sein 5. Kap. widmet. Die Pfarrer
begegneten einander regelmäßig, besprechen zusammen die
Schrift und Fragen der Lehre und des Lebens, beurteilen
einander brüderlich, und die Visitationen dienen dem gleichen
Ziel. Wer eine heilige Gemeinde will, muß auf die Heiligung
der Pastoren großen Wert legen. Leichtere Verfehlungen werden
in brüderlicher Weise abgetan, schwere Sünden können
aber zur Amtsentsetzung führen, die vermutlich auch die Exkommunikation
umfaßte. Von zehn unter 70 Pfarrern aus
Genf und Umgebung muß der Autor berichten, daß es so
weit kam. Daraus spricht keine Grausamkeit, sondern ein
starker Wille zur „Ehrlichkeit vor Gott". Nach Calvins
„Sieg" hört die Amtsentsetzung auf, das muß bedeuten, daß
Calvin endlich eine Homogeneität im Pfarrerkorps erreicht
hat. Es kann auch bedeuten, daß eine kräftige Kirchenzucht
Frucht getragen hat.

Im kritischen Schlußkapitel wird die Frage gestellt, wie
über Calvins Eigenart in der Frage der Kirchenzucht zu urteilen
ist. Mit Calvins Biographen Colladon mein t Plomp, daß
die „vehemence vraiment prophetique" Calvins als das Eigenartige
zu gelten hat. Er ist in manchem mit manchem verwandt
, aber die Energie, die er aufbringt, scheint für ihn typisch
zu sein. Die enge Verbindung von Rechtfertigung und
Heiligung muß notwendig zur Kirchenzucht aufrufen. Dabei
wird nicht nur an die Einzelpersonen und ihre Heiligung gedacht
, sondern auch an die gesamte Gemeinde. Calvin beurteilt
die Kirchenzucht der Täufer als zu hart, aber, wie vorher
schon angedeutet, hat er mit ihnen eine gewisse Verwandtschaft
.

Ist Calvins Kirchenzucht ganz zu ihrem Ziel gekommen?
Haben wir Heutige seine Praxis nur zu kopieren, um der Gemeinde
recht zu dienen? Plomp sieht bestimmte Schattenseiten
. Was kirchlich-geistlich sein sollte, wurde allzuoft juristisch
-weltlich. Der pastorale Ton fehlte zu oft. Der Vf.
meint, daß der Umstand, daß Calvin ja von Hause aus Jurist
war, diesen Sachverhalt nicht günstig beeinflußt hat. Weil
Kirche und Obrigkeit an der Sache beteiligt sind, bekommt
die Kirchenzucht notwendig einen gemischten Charakter. Daß
die ganze Gemeinde nicht mehr teilnimmt, ist auch kein Gewinn
. Die Exkommunikation kommt zu oft vor. Der Vf.
kommt zu der Feststellung, daß der Weg der Praxis der Kirchenzucht
in Genf abwärts geht. Mit ihm sind wir der Meinung
, daß darin eine gewisse Tragik gesehen werden muß.
Mit Weerda widerspricht Plomp aber dem Urteil W. Köhlers
, daß die calvinische Praxis der Kirchenzucht soviel als

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den Bankrott der Kirchenzucht überhaupt bedeutet hätte.
Denn die Kirchenzucht hat in Genf immerhin etwas Großes
geleistet. John Knox sah mit Verwunderung, wie aus der
gottlosen Stadt Genf ein „heiliges Sion" entstand. Calvins
Prinzipien bleiben dem Vf. bedeutsam, wenn auch die Praxis
große Schwierigkeilen aufzeigt. Bleibend werlvoll ist ihm der
Gedanke, daß es nicht ohne Kirchenzucht geht und daß sie,
in kirchlich-pastoralcm Stile geübt, auch in unserer Zeil Bedeutung
hat. Calvin rechnete damit, daß es hier keine perfekten
Christen gibt. Er wartet auf das Eschaton.

Das in niederländischer Sprache verfaßte Buch gibt am
Ende eine Zusammenfassung in französischer Sprache.

Weil der Vf. so quellenmäßig arbeitet und so abwägend
und reif urteilt, fordert er kaum Kritik heraus. -Methodisch
wäre es u. E. noch besser gewesen, die Kap. 3 und 4 zusammen
so zu bearbeiten, daß aus Calvins Praxis und Kompromissen
deutlich wird, was für ihn prinzipiell unaufgebbar ist.
Wir haben aber keineswegs den Eindruck, daß das Kapitel
über die Prinzipien die Darstellung der Praxis in unerlaubter
Weise beeinflußt hat. Man soll aber Calvins Prinzipien nicht
als platonische Ideen sehen, sondern sie darstellen in ihrem
Kampfe mit einer widerspenstigen „Hyle". Über den Einfluß
der juristischen Bildung Calvins auf seine Theologie ist das
letzte Wort noch nicht gesagt. Institutio, Predigten und namentlich
die pastoral-gerichteten Briefe lassen u. E. das Übel
nicht spüren. Warum sollte es da eben in der Kirchenzucht
auftreten?

Alles zusammen genommen: ein bedeutsames Buch über
ein bedeutsames Thema. Schade, wenn nur Niederländer es
zur Hand nehmen sollten!

Utrecht S. van der Linde

Chantraine, Georges: Le musterion paulinien Selon les Anno-
tations d'Erasme (Recherches de Sc. Rel. 58, 1970 S.
351-382).

Delfs, Hermann: Die ökumenische Botschaft des Johann
Arnos Comenius. Ein Wort des Gedenkens (ÖR 19, 1970
S. 431-437).

Kohls, Ernst-Walter: Martin Bucers Anteil und Anliegen bei
der Abfassung der Ulmer Kirchenordnung im Jahre 1531
(ZcvKP 15, 1970 S. 333-360).

Vinay, Valdo: II piecolo Cateehismo di Lutero come stru-
mento di evangelizzazione fra glit Italiani dal XVI al XX
secolo (Protestantesimo XXV, 1970 S. 65—84).

Wingren, Gustaf: Martin Luther in zwei Funktionen. Opladen
: Westdeutscher Verlag [1970]. 27 S. gr. 8° = Rheinisch
-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften
, Vorträge G 168. Kart. DM 3,80.

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Weigelt, Horst: Erweckungsbewegung und konfessionelles
Luthertum im 19. Jahrhundert. Untersucht an Karl v.
Raumer. Mit e. Geleitwort von W. Maurer. Stuttgart:
Calwer Verlag [1968]. 140 S. gr. 8° = Arbeiten zur Theologie
, hrsg. v. T. Schlatter mit A. Jepsen u. O. Michel,
II. Reihe, Bd. 10. Lw. DM 16,-.

Zu den bisher noch wenig geklärten Problemen der Kirchengeschichte
des 19. Jahrhunderts gehört die Frage des
Übergangs von einer individualistischen Erwcckungsfröm-

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

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