Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1971

Spalte:

506-509

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Carmignac, Jean

Titel/Untertitel:

Recherches sur le "Notre Père" 1971

Rezensent:

Weiß, Hans-Friedrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

505

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

506

Bei der Analyse jedes Einzelwunders nimmt der Vf. eine
Scheidung /wischen der vom Evangelisten übernommenen
Tradition und ihrer redaktionellen Gestaltung vor und sucht
die markinische Interpretation der Tradition herauszustellen
, doch scheint er sich u. E. nicht immer der Tatsache bewußt
zu sein, daß eine solche Scheidung /.wischen Tradition
und Redaktion bei Markus in jedem Falle schwieriger ist und
mit mehr Hypothesen belastet sein muß als bei einer Untersuchung
der beiden „Großevangelien" des Matth, und Lukas
, weil wir eben die voll Markus verarbeitete Tradition
nicht kennen, sondern sie nur hypothetisch erschließen können
. Auch des hypothetischen Charakters einer solchen Fest-
Stellung, daß z. 15. bestimmte Wunder schon in der vormar-
kinischen Tradition zusammengestellt worden seien (siehe
etwa S. 125f.), ist er sieb anscheinend nicht voll bewußt.

Für die erste Gruppe der Wundergeschichten, die Exorzismen
und Heilungen von Kap. 1,21—3,6, hat der Vf. als leitenden
theologischen Gesichtspunkt des Evangelisten den der
Vollmacht Jesu (Kap. 1,22.27) herausgestellt, der mehr ausdrücke
als nur die Reaktion der Zuschauer (S. 87), für die
vier großen Machttaten der Kap. 4 u. 5 den Gedanken der
dynamis Jesou (Kap. 6,2) (S. 120), während die Wunder der
Kap. (i—8 bereits das Thema des l'elrusbekenntnisses präludierten
: Jesus werde in seinen Wundern epiphan. In kritischer
Auseinandersetzung mil Schille, Sahlin und Karnetzki
betont er die missionstheologische Bedeutsamkeit dieses Abschnittes
fS. Iii!)), zumal in diesen Kapiteln Jesu Wirken
über die Grenzen Palästinas hinaus geschildert wird (S. 170).

Die beiden Wunder vom besessenen Knaben und von der
Heilung des üartimüus, die nach dem Petrusbekennl nis in
Kapiteln mit vielen Jüngerbelehrungen sieben, verstellt der
Vf. als Lehrbeispiele im Dienst der katechetischen Unterweisung
für die nachösterliche Gemeinde (S. 183).

Dem Vf. geht es insgesamt mit. Recht nicht um die historische
Frage nach der Glaubwürdigkeit, der von Markus be-
richteten Wunder Jesu, sondern um die hermeneutische Frage
ihrer theologischen Bedeutsamkeit innerhalb des Markus-
evangeliums, indem er den Zusammenhang von Wunder-
ttberlieferu ng und Auferstehungsglauben herausstellt. Das
drückt er etwa durch folgende Formulierungen ans: „Die in
jeder Einzelüberlieferung verkündete Bedeutung Jesu wird
durch den im Marknsevangelium linear dargestellten Zusammenhang
seiner Wunder als wunderbare Geschichte des
irdischen Jesus aktualisiert" (S. 188f.). „Mit solcher ,Histori-
Sierung' ist allerdings auch eine Distanzierung der Geschichte
Jesu von der Gegenwart der n.u höslerlichen Gemeinde in
ihre Vergangenheil verbunden. Die in und von der nachösterlichen
Verkündigung lebende Wundererzählung wird nun zu
einem überschaubaren Ausschnitt aus einer zusammenhängenden
Geschichte, die man als vergangene jetzt insgesamt
überblicken, aber auch neu interpretieren und dadurch für
die Gegenwart erneut lebendig machen kann" (S. 189). Die
Wunder hätten ihre Bedeutung nur als lwangelium und forderten
nicht an sich, sondern nur als Wunder Jesu Glauben
(S. 194).

Die Wunder Jesu seien die in seine Geschiclile vorlaufenden
Offenbarungen des Auferstandenen. Als nur vorläufige
Offenbarungen hätten sie die Tendenz, sich selbst überflüssig
z" machen, wie sich in den Geheimhaltungsgeboten zeige
(S. 206). Die an sich vergangenen Wunder Jesu kämen in der
Gegenwart des Evangelisten als Evangelium vor. Markus
setzte außerordentliche F>cignisse im Leben Jesu voraus,
yeige sieh aber an den Phänomenen als solchen nicht interessiert
. Nicht als außerordentliche Geschehnisse würden die
Wunder bedeutsam, sondern als Evangelium, also in den
^'enst genommen für die christologische Begründung des
'''Vangeliums, das Markus in seiner Zeit verkündigen wolle
(S. 207).

Ein Vorzug der Arbeit ist es, daß die gesamte einschlügige
Literatur berücksichtigt und kritisch verwertet wird. Nur
w'rd nicht ganz deutlich, ob sich der Vf. wirklich von Loh-
"»eyers Galiläahypothcsc in der Gestalt, die sie in den Untersuchungen
Schilles angenommen hat, freigemacht hat, denn
während eine missionstheologische Interpretation von
Mark. 6—8 (Vorabbildung der nachösterlichen Gemeinde und
der Heidenmission) u. E. durchaus möglich ist, wären gegen
eine missionsgeschichtliche Deutung dieses Abschnittes
(Widerspiegelung der Mission einer galiläischen Urchristen-
heit) doch erhebliche Bedenken geltend ZU machen.

Berlin Joachim R"hde

Carmignac, Jean: Recherehes sur le „Notre Pere". Paris:
Letouzey & Ane 1969. 608 S. gr. 8°.

Mit seinen „Recherchcs sur le ,Notre Pere' " legt ('. das bisher
wohl umfangreichste Werk über das „Vaterunser" vor.
Dabei will das Wort „Recherche»" im Titel durchaus ei ns!
genommen sein, d. h.: C. will nicht etwa einen vollständigen
Kommentar zum „Vaterunser" bieten, sondern lediglich,,Untersuchungen
" zu speziellen Fragen dieses Textes, „qui sont
encore controversees et qui meritent un Supplement de lu-
miere" (S. 5). Die angesichts solcher Eingrenzung der Aufgabenstellungnaheliegende
Frage, auf welche Weise dann der
I fmfang des Buches zustande gekommen ist, wird dadurch beantwortet
, daß C. in seine Untersuchung von Einzelproblemen
des „Vaterunsers" die gesamte Auslegungsgeschichte
einbezogen hat: „car il etait impossible de separer l'exegese
et la tradition patristique puis Interpretation theologique"
(S. 6). Durch diese enge Verbindung von eigener Interpretation
mit den in der Auslegungsgeschichtc (seit der alten
Kirche!) bisher vorgetragenen Interpretationsversuchen erhält
das Buch von C. zweifellos ein „eigenes Gesicht", auch
wenn auf solche Weise die Darstellung zugleich mitunter
eine etwas ermüdende Breite gewinnt und man an manchen
Stellen (vgl. z. R. S. 236—304!) die Frage nicht, ganz unterdrücken
kann, ob eine so umfassende Berücksichtigung der
Auslegungsgeschichte, bei der die betreffenden Autoren auch
jeweils selbst ausführlich zu Worte kommen, auch immer
wirklich etwas zur Lösung der anstehenden Probleme austrägt
?!

Eine weitere Eigenart des Buches von C. besteht darin,
daß hier, wie bei einem bisher vor allem durch seine Ubersetzungen
und Untersuchungen zu den Qumran-Sehriften bekannt
gewordenen Verfasser nicht anders zu erwarten ist, besondere
Aufmerksamkeit der Frage zugewandt wird, in welchem
Maße und in welchem Sinne Verbindungslinien zwischen
den Qumran-Sehriften und dem „Vaterunser" aufgewiesen
oder doch jedenfalls wahrscheinlich gemacht werden
können (vgl. S. 5: „Le but essentiel de ce travail est donc
d'integrer ä l'exegese du Notre Pere l'apport des manuscrits
de Qumrän"). Doch muß an dieser Stelle sogleich gesagt werden
, daß die Auswertung der Qumran-Texte für die Interpretation
des „Vaterunsers" durch C. in einer sehr besonnenen
und beinahe zurückhaltenden Weise geschieht: Direkte
Linien zwischen den Texten von Qumran und dem „Vaterunser
" werden kaum gezogen, vielmehr erscheinen diese Text«
jeweils nur als ein Repräsentant der jüdischen Tradition, deren
entscheidende Redeutung für eine sachgemäße Interpretation
des „Vaterunsers" ja ohnehin unbestritten ist (vgl. in
diesem Zusammenhang bes. die zusammenfassenden Bemerkungen
zum Problem im Kapitel 17: S. 354—360).

Das Werk als Ganzes ist übersichtlich und folgerichtig gegliedert
: In einem ersten Teil werden zunächst „Questions
preliminaires" erörtert (S. 9—52), und zwar im 1. Kapitel
grundsätzlich die Frage: „Comment traduire?", sodann im
2. Kapitel die Frage, welche der beiden Versionen des „Vaterunsers
" im Neuen Testament die Priorität vor der anderen
besitzt („Quel texte etudier? Luc ou Matthieu?"); im 3. Kapitel
des ersten Teiles geht C. dann endlich der Frage nach,
ob die „langue originale" des „Vaterunsers" als die hebräische
oder die aramäische zu bestimmen ist. — Das eigent-