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Ausgabe:

1971

Spalte:

500-501

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Grabner-Haider, Anton

Titel/Untertitel:

Paraklese und Eschatologie bei Paulus 1971

Rezensent:

Stuhlmacher, Peter

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498

NEUES TESTAMENT

Ciillmann, Oscar, Prof.: Jesus et Ies revolutionnaires de son
Temps. Culte, Societe, Politique. Neuchätel: Delachaux et
Niesll6 [1970]. 87 S. kl. 8".

— Jesus und die Revolutionären seiner Zeit. Gottesdienst,
Gesellschaft, Politik. Tübingen: Mohr 1970. 82 S. kl. 8°.
DM 5,80.

In unserem revolutionär ausgerichteten Zeitalter zeigt sich
zunehmend bei Theologen die Tendenz, den historischen Jesus
als Revolutionär hinzustellen und ihn damit den heutigen
Zeitgenossen nahezubringen. Dies geschieht meist in der
Weise, daß bestimmte nonkonformistisch klingende Aussagen
in den synoptischen Evangelien verabsolutiert und direkt
auf die Gegenwart übertragen werden. Gegen ein solches
weitverbreitetes Vorgehen wendet sich C. mit dieser kleinen
Schrift, die sich die Klärung der historischen Frage hinsichtlich
Jesu Einstellung zur Lage und zu Bewegungen seiner
Zeit zum Ziel gesetzt hat, um erst auf dieser Grundlage in
einem „Ausblick" die aktuelle Frage zu berühren, „wie Jesu
Worte und Taten ohne grundlegende Abstriche für unsere
Zeit fruchtbar zu machen sind" (S. 4). Im Mittelpunkt steht
dabei Jesu Verhältnis zu der religiösen und politischen Widerstandspartei
der sog. „Zeloten".

Die in Frage kommenden Jesusaussagen gliedert C. in
2 Gruppen: 1. die Jesus als dem Zelotentum nahestehend
vorstellen, zu denen Jesu Predigt von der genahten Gottesherrschaft
, seine kritische Haltung gegenüber Merodes, sein
Kreuzestod sowie Joh. 6,15; Mark. 11,1 ff. löffpar und
Luk. 22,25 gehören; 2. die Jesus als vom Zelotentum deutlich
distanziert hinstellen, zu denen Matth. 5,9.39.43 ff. par;
22,15ff.par; 26,52par, Jesu „prinzipielle Treue gegenüber
dem Gesetz", sein Umgang mit Zöllnern mit der Aufnahme
eines Zöllners in seine Jüngerschar rechnen. Mit Leidenschaft
polemisiert C. gegen den beliebten Versuch, nur die
eine der beiden Textreihen als legitim anzuerkennen. „Man
rechnet überhaupt nicht mit der Möglichkeit, daß die Haltung
Jesu gegenüber den weltlichen Institutionen... notwendigerweise
komplex sein mußte, weil sein Denken ganz
und gar von der Enderwartung ausging" (S. 27). Aus der dominierenden
Stellung von Jesu Enderwartung ergibt sich,
„daß für Jesus alle Gegebenheiten dieser Welt notgedrungen
relativiert werden und daß infolgedessen seine Haltung jenseits
der Alternative ,bestehende Ordnung' oder .Revolution'
liegen mußte" (S. 28). C. zieht nun daraus die Konsequenzen
für die gottesdienstliche, soziale und politische Frage, wobei
er feststellt: Jesus hat zwar Mißstände radikal und kompromißlos
bekämpft, aber er steht gegenüber den bestehenden
Institutionen und Traditionen jenseits der Gegensätze (vgl.
S. 31). „Jesus reinigt den Tempelkult, er sucht nicht ihn zu
beseitigen" (S. 37), er überläßt die allgemeine gesellschaftliche
Umwälzung dem kommenden Gottesreich, aber er erwartet
, daß „in dem noch bestehenden Rahmen der Jünger
schon jetzt individuell auf radikale Weise die Normen des
kommenden Reiches" anwendet (S. 43/44). Daraus ergibt
sich, daß Jesu Verurteilung wegen Zelotismus „ein Justizirrtum
" war (S. 51). Da jedoch ein solcher Irrtum unmöglich
gewesen wäre, wenn nicht tatsächlich ein messianischcr Anspruch
in irgendeiner Form von Jesus erhoben worden wäre,
schließt C. auf ein „messianisches Selbstbewußtsein", das im
Sinne von Joh. 18,36 zu verstehen sei. In dem „Ausblick"
warnt C. vor einer direkten Übertragung von Jesu Einstellung
für unsere Zeit, weil wir heute nicht mehr mit einem unmittelbar
bevorstehenden Weitende rechnen. Aber „Jesu
Forderung der Priorität des Suchens nach dem Gottesreich
vor allen sozialen Bestrebungen fällt nicht dahin, auch wenn
wir heute ein Zusammenwirken von Bekehrung des einzelnen
und Reform der Strukturen für unerläßlich halten" (S. 75).
C. schließt seinen „Ausblick" mit der Zitierung von Diogn.
VI, 3.

500

Die Bedeutung dieses kleinen Büchleins besteht darin, daß
hier die in C's Untersuchung: Der Staat im Neuen Testament
(19612) und C's Aufsatz: Die Bedeutung der Zelotenbewegung
im Neuen Testament (in: Vorträge und Aufsätze
1925-1962, 1966, S. 292ff.) streng wissenschaftlich gebotenen
Ausführungen jetzt in allgemein verständlicher und
leicht lesbarer Form und in Auseinandersetzung mit gegenwärtigen
Tendenzen gebracht werden. Angesichts der immer
mehr in den Sog des Journalismus geratenden theologischen
Schriftstellerei kommt darum dieser methodisch sauberen
und Sensationen abholden Schrift große Bedeutung zu.

Kritisch ist anzufragen, ob die unter den beiden Gruppen
von Jesusaussagen genannten einzelnen Stellen und Fakten
nicht von sehr unterschiedlichem Gewicht sind. Bei einer
stärkeren Berücksichtigung der Form- und Redaktionsgeschichte
würde sich wohl zeigen, daß hier stärker differenziert
werden muß, wobei sich aber eine Akzentverschiebung
ergeben könnte. Joh. 18,36 und Diogn. VI, 3 dürften die ursprüngliche
Intention der Jesusbotschaft kaum zutreffend
wiedergeben. Dadurch wird jedoch das entscheidende Ergebnis
dieser Studie, daß Jesus „nicht Zelot gewesen ist, obwohl
er sich während seiner ganzen Tätigkeit für diese parallele
und doch so verschiedene Bewegung interessiert hatte"
(S. 70), nicht in Frage gestellt.

Berlin Günther niiumbach

Grabner—Haider, Anton: Paraklesc und Eschatologie bei
Paulus. Mensch und Welt im Anspruch der Zukunft Gottes
. Münster/W.: Aschendorff [1968]. XXII, 160 S. gr. 8°
= Neutestamentliche Abhandlgn., hrsg. v. J. Gnilka, N. F.
4. Kart. DM 24,- ; Lw. DM 28,-.

Die von Heinrich Schlier angeregte, in Graz angenommene
katholisch-theologische Dissertation behandelt ihr Thema in
drei großen Kapiteln: I. Die Eigenart der paulinischen Para-
klese; II. Die cschatologische Begründung der Paraklese;
III. Die cschatologische Ausrichtung der Paraklese. Unter
Paraklese versteht der Vf., neutestamentlichem Sprachgebrauch
folgend, den Vollzug ethischer Ermahnung und gleichzeitig
die applikative „Ausfaltung" des Evangeliums, womit
sogleich eine sehr interessante theologische Problematik berührt
wird, nämlich die Verhältnisbestimmung von Indikativ
und Imperativ im paulinischen Denken. Mit der Wahl des
Stichwortes Paraklese (== P.) statt, wie noch weithin üblich,
Paränese, folgt das Buch einem schon von Schlier, Schnie-
wind, Joest, Michel u. a. angemeldeten Wunsch nach Präzisierung
einer mißverständlichen Ausdrucksweise innerhalb
der neutestamentlichen Wissenschaft und bringt zum Ausdruck
, daß mit der paulinischen Mahnrede kein primär religionsgeschichtlich
ableitbares, vielmehr „der urchristlichen
Missions- und Predigtpraxis" entstammendes Phänomen zur
Debatte steht. Grabner-Haiders Arbeit ist insgesamt gut lesbar
und erleichtert die Lektüre durch stets gegebene Zusammenfassungen
der Kapitel und Paragraphen.

Im ersten Kapitel untersucht Vf. zunächst das zum Thema
gehörige neutestamentliche Wortfeld, dann die verschiedenen
modi der P. als Lehre, Prophetie, Tröstung der Gemeinde
etc., geht kurz auf die in die pauliniiche P. aufgenommenen
vorpaulinischen Traditionen ein und stellt fest, daß der Ansatz
der paulinischen P. im Alten Testament und in der apokalyptischen
Mahnrede vorgebildet sei, während die Inhalte
der Weisung z. T, auch hellenistischer Überlieferung entstammen
. Bei dieser religionsgeschichtlichen Analyse hätte
stärker auf die Traditionen der Diasporasynagoge als Mutterboden
gerade paulinisrher 1'. eingegangen werden sollen. Das
eigentliche Schwergewicht des Kapitels liegt dann auf der
Feststellung, daß P. „zugleich Folge und Weise der Evange-
liumsvcrkündigiing ist. Sie ist das Evangelium in der Weise
des Zuspruches und des Anspruchs, sowie in der Weise der

Theologische Lileralurzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7