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Ausgabe:

1971

Spalte:

491-492

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Richter, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Die sogenannten vorprophetischen Berufungsberichte 1971

Rezensent:

Reventlow, Henning

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Seite 1

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191

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 7

492

ALTES TESTAMENT

Richter, Wolfgang: Die sogenannten vorprophetischen Beruf
ungsherichle. Eine literaturwissenschaftliche Studie zu 1
Sam 9,1-10, 16; Ex 3f und Ri 6,llh-17. Göttingen: Van-
denhoeek & Ruprecht 1970. 203 S. gr. 8° = Forschungen
zur Religion u. Literatur des Alten u. Neuen Testaments,
hrsg. v. E. Käsemann u. E. Würthwein, 10:1. Kart. DM
31,-; Lw. DM 36,-.

Mit seiner Exegese der Abschnitte 1. Sam. 9,1—10,16 und
Ex. 3 f. (für Ri. 6.11h—17 wird nur kurz auf ältere Ergebnisse
des Vf. verwiesen, 134 f.) setzt Richter die Durchführving
seines methodischen Programms, das er schon in seiner
Dissertation1 an einem ersten Beispiel entwickelt hatte, an
neuem Untersuchungsmaterial fort. Was Richter im Gegensatz
zu der „üblicherweise angewendeten Iraditionsgeschicht-
lichen Fragestellung" als „einen umfassenden literaturwissenschaftlichen
Aspekt" versteht (Vorwort), zeigt sich in einer
nun schon bekannten Weise auch in seinem neuesten Werk:
innerhalb eines dreistufigen Arbeitsganges, der jeweils Lite-
rarkritik, Formkritik und Gattungskritik umfaßt, liegt der
Schwerpunkt offensichtlich auf der Formkritik, in der Richter
seinen spezifischen methodischen Beilrag liefern will. Genau
wie in den früheren Arbeiten muß „Form" dabei als
„grammatische Form" verstanden werden: die entscheidenden
Gesichtspunkte für sie sind bei Richter syntaktischer
Art. Wichtigster Maßstab ist die consecutio temporum der
Verben: die Beobachtungen über das Auftreten der Positionen
x-yiqtol und qatal-x und die Verteilung von Verbal- und
Nominalsätzen ergeben zusammen mit dem daraus resultierenden
Szenenbild das Schema, das die Charakterisierung
eines Abschnittes als „Erzählung", „konstruierte Erzählung",
„theologische Abhandlung" usw. und damit die Gattungskritik
als dritten Schritt ermöglicht. Als notwendigen ersten
Schritt, der noch vor diesem Arbeilsgang liegen muß, sieht
Richter jedoch die Litcrarkritik an. Auch hier erscheint es
ihm nötig, mit der Analyse der Texte ab ovo zu beginnen
(gelegentlich wird bemerkt, daß die herkömmliche Quellenkritik
grundsätzlich von der Traditionsgeschichte her neu zu
überprüfen wäre, 130, Anm. 6); infolgedessen wird in einem
umständlichen, selbst ergebnislose Erwägungen mitteilenden
Verfahren von der Beobachtung von Doppelungen und Spannungen
ausgehend zunächst ein von Zusätzen gereinigter
Text hergestellt (bei 1. Sam. 9,1 ff., S. 13ff.) bzw. die Fäden
(mit J und E identisch) voneinander getrennt (bei Ex. 3 f.,
S. 58 ff.), ehe der hergestellte Text zum Gegenstand der Form-
Ii rilik gemacht wird.

Für 1. Sam. 9,1 ff. ergibt sich, daß eine ältere Schicht, gattungsmäßig
eine ursprüngliche „Erzählung", von der durch
die Befragung eines „Gottesmannes" ermöglichten Wiederauffindung
der verlorenen Eselinnen berichtete; die literarische
Bearbeitung in 9,14 aßb. 15-17. 20f.; 10,1-7 hat
daraus den Bericht von Sauls Berufung zum nagid gemacht,
wobei prophetische Designation (durch Samuel), Geistmitteilung
und (hier singulare) nagid-Salbung auf eine Verhaftung
in prophetischen Traditionen weisen und eine Entstehung
im späteren Nordreich in frühköniglicher Zeit vermuten
lassen (52 ff.).

Für Ex. 3 f. ergibt sich innerhalb des ersten Fadens (= J)
in 3,1 aboc. 2— 4a. 5. 6 b eine, allerdings in der Exposition umgestellte
und wahrscheinlich nur einen Ausschnitt aus einer
größeren Einheit bildende (78f.) religiöse „Aussage- Erzäh-
lung" (80) als Kern, die vermutlich das Gesicht im Dornbusch
kultätiologisch erklären wollte. Die Bearbeitung dieser
Grundlage in 3,7f. 16—20; 4,1—4. 6—9, wobei die Elemente
von Jahwerede, Einwand des Mose und weiteren, verschiedene
Zeichen hervorrufenden Jahwereden hervortreten, trägt
den Charakter einer rein literarischen geschichtsthcologi-
schen Abhandlung, als deren Vf. J bestimmt wird. Ebenso
ist der zweite Faden, der in die jedoch zusammenhängenden

Unterabschnitte 3,1 bß. 4 b. 6a. 9-15; 4,10-17; 4,19. 20b-
23; 4,27—31 auseinanderfällt, eine rein literarische „theologische
Abhandlung in Gesprächsform" (116), wobei noch
zwischen einer auf E zurückgehende Grundlage 3,1 bß. 4b.
6a. 9-15; 4,(10-17?) 19. 20b-23 (126) und einer späteren
Bearbeitung zu trennen ist. Auch die älteste Schicht hat mehrere
Zielpunkte (Enthüllung des Jahwenamens, Einführung
Aarons, Aufforderung zu Rückkehr und Aufbruch) und weist
über sich auf Vätergeschichten, Plagen und Auszug hinaus.
J und E sind selbständige Fäden; bei ihrer Zusammenarbeitung
hat J als Grundlage gedient (130).

Zum Schema der Berufung ergibt sich, daß diese-, allen
drei Vfn. (dem recht früh anzusetzenden von 1. Sam. !),lff.;
J und E) bekannt war, aber nicht mehr in seinem ursprünglichen
Sitz im Leben befindlich, sondern von ihnen als literarisches
Mittel zur Ausgestaltung ihrer- Abhandlungen benutzt
wurde. Dabei steht 1. Sam. 9,1 ff. jedoch den Ereignissen
noch nahe und spiegelt sich eine wirklich geschehene Berufung
des Saul zum nagid in dieser Darstellung, während sich
bei J und E, aus größerem zeitlichem Abstand heraus, darin
die Wertung des Moses als Prophet ausdrückt (131 ff.). In
einem ausführlichen Schlußteil (136ff.) wird das Schema der
Berufungen behandelt (169ff.; beachtlich ist die Einteilung
in kriegerische und prophetische Berufungen), schließlich
eine geschichtliche Linie von den frühen ,,Retlcr"-Berufun-
gen bis zu den Berufungen der Schriftpropheten (für die eine
eigene Untersuchung angekündigt wird; 178, Anm. 4) gezogen
.

Das Verdienst Richters für die Anwendung seiner grammatisch
-syntaktischen Methode sowie seiner Forderung nach
methodischer Strenge ist rückhaltlos anzuerkennen2. Sie zeitigt
auch hier wieder beachtliche Ergebnisse. Zugleich zeigen
sich allerdings gerade in dieser jüngsten Arbeit bedenkliche
Folgen einer Monomanie, die nicht nur in der Meinung, alles
von vorne lösen zu müssen und in der schroff abweisenden
Kritik an allen Vorarbeiten (das zeigt ein Blick auf die Anmerkungen
) hervortritt, sondern auch in der Einengung des
Blickpunktes auf das grammatisch Faßbare. Typisch dafür
sind im Beruf ungsschema der „Einwand", in dem „keine feste
Wendung erkannt werden" kann (145) oder beim Zeichen,
in dem „keine feststehende Wortverbindung und somit keine
geprägte Wendung oder gar Formel... erkennbar war" (167),
wo die Zugehörigkeit dann unklar bleibt, oder bei der Beistandszusage
, wo die Ilerkunflsfrage von der literarischen
Verwendung der Formel YIIWII (hyh) 'mm/'t NN her zu lösen
versucht wird (146ff.). Richter möchte methodisch exakt
vorgehen, indem er vom „Sprachgebrauch" (in syntaktischer
Hinsicht), also „geprägten Wendungen" und „Formeln" ausgeht
(142f.); diese Methode hat jedoch ihre Grenze, wo sich
ein Schema in Entsprechungen darstellt, die über den Bereich
rein stilistisch-grammatischer Beobachtungen hinausgehen
. Traditionsgeschichte und Gattungskrilik sind gezwungen
, auch in den vorliterarischen Bereich, die mündliche
Überlieferung, vorzustoßen, die hinter den literarischen
Fixierungen sichtbar wird; notwendigerweise werden dabei
auch überlieferungsgeschichtliche, thematische und historische
Gesichtspunkte angewandt werden müssen, die dem
Vf. „kombinatorisch" erscheinen, aber einer- geisteswissenschaftlichen
Betrachtung eigen sind. Im Grunde ist ja auch
Richter darauf angewiesen. Das Schema der Berufung, das
den Zielpunkt seiner Untersuchung bildet, ist ja keineswegs
von ihm neu entdeckt, sondern von den Autoren schon eingehend
geprüft und verfeinert worden, deren Vorarbeit er
verachtet. Seine sehr hilfreiche Methode möge deshalb bei
ihrer verdienten Aufnahme nicht unter dem Rigorismus ihres
Urhebers leiden.

Bochum Henning Grat Revcntlow

1 Traditionsgeschichtl'chc Untersuchungen zum Richterbuch, Honn
1863 (iDOfi«).

■ Vgl. schon die Rezension von: Tradilionsgeschichtlielic Unter.su-
chungen zum Richterbucll, in: ThLZ 89, 1064, Sp. 831-834.