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Ausgabe:

1971

Spalte:

385-388

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Pauli, Sabine

Titel/Untertitel:

Der Rostocker Kirchenhistoriker Wilhelm Walther, sein Beitrag zur Lutherforschung 1971

Rezensent:

Pauli, Sabine

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 5

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eine Gestalt oder Epoche der Kirchengeschichte erfaßt und
eingeordnet wird: 1. ob deren Frömmigkeit im .Nehmen
von Gott' besteht. 2. ob eine so geartete Frömmigkeit
die (ausschließliche) Grundlage der Ethik ist. - Eine
besondere methodische Begrifflichkeit hat v. Walter nicht
entwickelt. Es ging ihm um die Erfassung des Lebens:
Anhand einzelner Konfessionsgemeinschaften, Gemeinden
und Individuen werden verschiedene »Frömmigkeitstypen"
herausgearbeitet, einmal durch Erfassung der Volks-Stimmung
, zum andern durch »Kreuzungen" mit geistes- und
machtgeschichtlichen Phänomenen aus dem profangeschichtlichen
Bereich.

Schließlich ist es bewegend, an Johannes v. Walter zu
verfolgen, wie ein deutscher Hochschullehrer in den Jahren
zunehmender innerer und äußerer Erschütterungen und
besonders in der Zeit faschistischer Barbarei zwar zurückhaltend
, aber mit innerer Charakterstärke seine politischen,
weltanschaulichen und menschlichen Positionen durchhält.
Die wichtigsten Veröffentlichungen (Bibliographie s. in
ThBl. 19/1940 Sp. 125 ff).

1. (Hauptwerk) Die Geschichte des Christentums, 4 Hbb,
1932-38, 2., durchgesehene A. (Vorwort!) 1939, Nachdruck
der 2. A. 1947

2. Editionen: De libero arbitrio diatribe, 1910, Neudruck
1935; Die vier Sentenzenbücher des Magisters Gandu'f
von Bologna, 1924; Die Depeschen des Nicolo Tiepolo
(venezianischer Gesandter auf dem Augsburger Reichstag
1530) über die Religionsfrage, 1928.

3. Die ersten Wanderprediger Frankreichs, 1903, NF 1906

4. Der religiöse Entwicklungsgang des jungen Luther, 1925;
Der Reichstag zu Augsburg, Lutherjahrbuch XII, 1930.

5. Die Theologie Luthers, 1940 (Fragmente, postum hg.)
Christentum und Frömmigkeit, 1941 (Vortrags- und Aufsatzsammlung
, postum hg.)

Pauli, Sabine: Der Rostocker Kirchenhistoriker Wilhelm
Walther (1846-1924), sein Beitrag zur Lutherforschung.
Diss. Rostock 1969. 274 S.
Die wissenschaftliche Lcbensleistung Wilhelm Walthers,
obgleich er nicht zu Unrecht zu den »Altmeistern" der
Lutherforschung im ausgehenden 19. Jahrhundert gezählt
wurde, scheint nach seinem Tode schnell in Vergessenheit
geraten zu sein. Zu Lebzeiten wurden seiner wissenschaftlichen
Arbeit, insbesondere von G. Kawerau und R. Grützmacher
, ja selbst von erbitterten Gegnern wie Denifle und
Grisar, ehrenvolle Zeugnisse ausgestellt. Die Lutherforschung
nach dem zweiten Weltkrieg stand so vorwiegend
im Zeichen Karl Holls und der Dialektischen Theologie,
daß der älteren Forschergeneration kaum noch gedacht
wurde. In der 3. Auflage der RGG erhielt Walther keinen
eigenen Artikel mehr. Insofern war mit der vorliegenden
Arbeit eine Lücke in der Geschichte der Lutherforschung
auszufüllen.

Im ersten Teil der Arbeit wird eine Bibliographie
Walthers vorgelegt, die bisher nicht existierte.

Teil II bietet unter der Überschrift „Voraussetzungen
der wissenschaftlichen Arbeit Walthers" einen biographischen
Abriß im Blick auf Walthers Wege zu Luther, die
über Erlangen (v. Hofmann) - Marburg (Vilmar) -
Göttingen (Ritsehl) im Jahre 1894 nach Rostock führten,
wo Walther bis zu seinem Tode 1924 wirkte.

Teil III beleuchtet Walthers theologischen Werdegang
bis 1883 unter theologiegeschichtlichem Aspekt. Dieser
Werdegang ist gekennzeichnet durch die Stichworte Neuluthertum
und Ritschlsche Theologie. Dabei erwies es sich
als notwendig, die verschiedenen Arten des Rückgriffs
auf Luther einmal in den einzelnen Spielarten des Neuluthertums
im 19. Jahrhundert, zum andern die spezifische
Eigenart des Ritschlschen Rückgriffs auf die Reformation
genauer zu unterscheiden, um Walthers eigenen Standpunkt
deutlich herausarbeiten zu können.

Teil IV gliedert sich in drei Abschnitte:

Teil IV A (S. 46-84) steht unter der Überschrift
»Quellenforschung und Editionsarbeit". Das Lutherjubiläum
1883 brachte für Walther wesentliche Anregungen
zur Luther gewidmeten Quellenforschung und Editionsarbeit
. Auf diesem Gebiet hat Walther seine größte, d. h.
nachhaltigste wissenschaftliche Leistung erbracht. Walther
gilt als Altmeister der Erforschung der mittelalterlichen
Bibelübersetzung, seine Pionierarbeit »Die deutsche Bibelübersetzung
des Mittelalters" (1889/92) gehört noch heute
zur Standardliteratur. Die von ihm herausgegebenen
Bände 19 und 23 der Weimarer Ausgabe gelten, als im
Wortsinn vorbildliche Editionsleistungen.

Teil IVB (S. 85-178) enthält Walthers Polemik gegen
die damalige katholische Lutherdeutung. Das Lutherjubiläum
1883 gab der katholischen Polemik gegen Luther
einen ungemein großen Aufschwung. Im Kampf »Für
Luther wider Rom" stand Walther 1883-1918 unter den
Zeitgenossen in der vordersten Frontlinie. Sein Kampf
richtete sich vor allem gegen die Lutherdarstellungen von
Johannes Janssen, Tilmann Pesch, Heinrich Denifle und
Hartmann Grisar. An der allmählichen Wendung zu einem
sachgerechteren Lutherbild auf katholischer Seite, deutlich
z. B. an einem Vergleich der beiden Lutherjubiläen 1833
und 1917, hat Walther als Lutherapologet einen wesentlichen
Anteil.

Teil IV C »Das Erbe der Reformation im Kampf der
Gegenwart" (S. 179-212) zeigt die Vielfalt der Frontstellungen
, in denen sich Walther zu bewähren hatte. Das
Lutherjubiläum 1883 intensivierte auch die Bemühungen
der Ritschl-Schule um Luther. Gegenüber den Verzeichnungen
des Lutherbildes in der Theologie Ritschis und
seiner Schüler übte Walther eine Art Wächterfunktion aus,
indem er mit Hinweis auf das Zeugnis der Quellen
die in Ritschis Willen zum »System" gegebene Umklammerung
Luthers nachzuweisen und zu sprengen suchte.

Ferner ergibt sich, daß Walther - allerdings wohlweislich
nur indirekt - auch die Fehlinterpretation Luthers im
extremen Neuluthertum (und in der lutherischen Orthodoxie
) abgewiesen und korrigiert hat.

In Walthers Auseinandersetzung um »Das Erbe der
Reformation im Kampf der Gegenwart" ging es vor allem.

1. Um Luthers Anschauung vom Heiligen Geis!-, in
Frontstellung gegen die alten und neuen „Schwärmer" und
gegen eine Frühschrift Rudolf Ottos, die diesen in enger
Gefolgschaft Ritschis zeigt;

2. um Luthers Lehre von der Schrift, von der Sittlichkeit
und von der Kirche, in Frontstellung gegen Adolf
Harnack als Repräsentanten der Epigonen Ritschis im
liberalen Fahrwasser (daneben indirekte Frontstellung
gegen das extreme Neuluthertum und die orthodoxe
Schultheologie);

3. um Luthers Rechtfertigungslehre, in Frontstellung
gegen Karl Holls Deutung der Rechtfertigungslehre Luthers
als Spätblüte Ritschlscher Intentionen (daneben indirekte
Frontstellung gegen Neuluthertum und lutherische Orthodoxie
).

Zusammenfassend ist zu sagen: Wilhelm Walthers
Bedeutung, sein bleibender Beitrag zur Lutherforschung
lag in erster Linie auf dem Gebiet der Quellenforschung
und Editionsarbeit, zum andern auf dem Gebiet einer
mäeutischen Funktion gegenüber den Verzeichnungen des
katholischen und des in der Ritschlschule und im extremen
Neuluthertum vertretenen Lutherbildes.