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Ausgabe:

1971

Spalte:

236-238

Kategorie:

Referate und Mitteilungen über theologische Dissertationen und Habilitationen in Maschinenschrift

Autor/Hrsg.:

Thiel, Winfried

Titel/Untertitel:

Die deuteronomistische Redaktion des Buches Jeremia 1971

Rezensent:

Thiel, Winfried

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Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 3

236

teil von Bemasiologisehen und etymologischen Studien aus.
Mit Ausnahme weniger Schriften (Exodus, I.Könige,
Jona, Haggai, Ruth, Esra) sind in allen Teilen des Alten
Testaments Wurzeln für ,verachten' und Derivate oder
zumindest für seine Vorstufen vorhanden. Zu den meist
gebrauchten Wurzeln zählen: nxa (Kai: geringschätzen;
Ni: verachtet; Ni: Verachtung hervorrufen, verächtlich
machen), Vf? (Nebenform nV) (Hi: verachten, verächtlich
behandeln), Subst. (Schmach, Schande - meist
in jüngeren Schriften), ykj (meist Pi: unter Verhöhnung
verwerfen). Abgeschwächten Synonymen gleichen in der
Bedeutung die häufig vorkommenden Wurzeln Tin (Kai,
Pi - Subst. ns-in) und okd (Kai, Ni), die man meist mit
.verwerfen' bzw. ,schmähen', Schmach' wiedergeben
möchte. Tst von einem Verschmähen der Menschen untereinander
die Rede, wird am häufigsten Tin gebraucht;
no und V?9 - wenn Menschen sieh gegenseitig verachten,
Gott verachten wird mit y>« wiedergegeben. Wenn die
Verachtung von Gott ausgeht und den Menschen trifft,
wird am meisten oko gebraucht.

In einem Exkurs „Äquivalente in der Septuaginta"
wird deutlich, daß die Vielfalt der Übertragungsmöglichkeiten
hebräischer Wurzeln ins Griechische auf erhebliche
theologische Bearbeitung der Septuaginta zurückzuführen
ist.

Aus der lexikalischen Untersuchung ergibt sich, daß
Menschenverachtung sowohl als Gen. subj. als auch als
Gen. obj. aufgefaßt wird, d.h., daß Menschenverachtung
entweder von Menschen ausgehen oder Menschen treffen
muß oder beides: von Menschen ausgehend Menschen
trifft. Gegenstand der Menschenverachtung ist also zunächst
der Mensch selbst. Er kann als Einzelner (2 Sam
0,10) von Menschenverachtung getroffen werden oder
auch in einer Gesamtheit (2 Sam 19,44, Jer 4,30). Wer den
Menschen verachtet, verachtet damit zugleich dessen
Schöpfer. So wird auch Gott, sein Wort, sein Rat, sein
Name (Jer 23,17.; Ps 107,11/74,18) zum Gegenstand der
Menschenverachtung.

Gelegentlich wird Gott als der Urheber von Verachtung,
die sich auf den Menschen richtet, gesehen. Jedoch läßt
sich eine permanent totale Verachtung im Alten Testament
nicht feststellen, häufiger ein partielles, zeitweiliges
Verachten. Gott muß im wesentlichen ein Verachtenwollen
abgesprochen werden (Lev 26,44). Sein Verhalten wird
als reactio auf ein Tun des Menschen verstanden. Somit
sind die Ursachen zur Menschenverachtung beim Menschen
selbst zu suchen.

Die Phänomene der Menschenverachtung im Alten
Testament, denen in einem besonderen Teil der Arbeit
nachgegangen wird, bestätigen diese Auffassungen.
Phänomene der Meuschenverachtung sind in allen Teilen
des Alten Testaments zu finden, naturgemäß am meisten
bei den Propheten. Menschenverachtung ist nicht nur in
bezug auf andere Völker geläufig, sondern auch innerhalb
des auserwählten Volkes selbst. Propheten warnen vor der
Reaktion Gottes auf die ihm zugedachte Verachtung.
Gottes Menschenverachtung zeigt sich in der Auslieferung
seiner Geschöpfe an feindliche Mächte. Doch ist diese
Auslieferung begrenzt. Wer diese Grenze nicht sieht, meint
von einer Ohnmacht Gottes sprechen zu müssen.

In einem Exkurs „Das Phänomen der Menschenverach-
tung in seinen Besonderheiten" wird auf Strafen eingegangen
, die als Menschenverachtung kenntlich sind.
Weiterhin werden Schutzmaßnahmen erwähnt, die das
Aufkommen der Menschenverachtung verhindern sollen.
Gedacht ist an die Totalität der Menschenverachtung -
zeitweiliges, partielles Verachten wird im Alten Testament
unter Umständen für angebracht gehalten. (Vielleicht
sollte man, um Mißverständnissen vorzubeugen, die aus
einem bestimmten psychologischen Vorverständnis herrühren
, von einem positiven Begriff der Meuschenverachtung
sprechen - im Gegensatz zu einem negativen
Begriff.) Sodann ist vouZeichen und Bildern die Rede, die
ein Verachten ausdrücken können (Kopfschütteln,
Mundaufreißen, Händezusammenschlagcn, Zischen, Entblößen
der Scham u.a.m.). Zu Redewendungen erstarrte
Formen lassen ihre ursprüngliche Absicht zur Verachtung
nicht mehr erkennen.

Die Studie hat es mit einem Menschen zu tun, der von
Gott ins Sein gerufen ist, aber nicht mehr im paradiesischen
Urzustand lebt, sondern aus diesem willentlich
herausgetreten ist. Trotzdem bleibt er personhaftes
Gegenüber Gottes. Gott steht zu diesem Menschen als zu
seinem Geschöpf. Das verleiht dem Menschen vor allen
anderen Lebewesen eine besondere Würde. Wo der
Mensch nicht mehr als Gegenüber Gottes geachtet wird,
ist seine Würde verletzt. Menschcnvcraehtung, die den
Menschen zum Ziel hat, hat es mit einer Verletzung seiner
Würde zu tun. Menschenverachtung findet ihren theologischen
Ort im sündigen Tun des Menschen; sie geht
also vom Geschöpf aus, das nicht mehr im richtigen Verhältnis
zum Schöpfer steht. Das wiederum deutet schon
die Richtung der Aufhebbarkeit der Menschenverachtung
an.

Theologische Versuche, Meuschenverachtung zu bewältigen
, sind im Alten Testament in großer Zahl vorhanden
. Sie können von Einzelpersonen, Gruppen, weltlichen
oder sakralen Institutionen ausgehen. Dabei geht
es darum, Meuschenverachtung positiv zu wenden oder
auch unwirksam - zumindest für die Haltung des Menschen
- werden zu lassen. Die Zeitverhältnissc spielen
hier eine nicht unwesentliche Rolle. In Zeiten der Konsolidierung
(etwa Landnahme!) werden solche Versuche weitgehend
zurückgestellt - während in Zeiten äußerer Bedrängung
alle Bewältigungsversuche vorwiegend von
Gott selbst erwartet werden. Solche theologischen Bewältigungsversuche
sind nicht gleichzusetzen mit einer Beseitigung
von Menschenverachtung überhaupt. Größeres
Unheil verhütend - dient sie sogar zum Schutz und scheint
deswegen zuzeiten angebracht. Da aber wird der Mensch
wieder in der Frage seiner Verantwortlichkeit gegenüber
Gott und den Mitmenschen angesprochen.

Thiel, Winfried: Die deuterononiistische Reduktion des
Buohes Jeremia. Diss. Berlin 1970. V, 703 S.

Die Untersuchung geht aus von dem vielverhandelten Problem
der deuteronomistiseh formulierten Prosareden im Buche
.Jeremia. Diese Fragestellung erweist sich jedoch als Tcil-
aspekt einer umfassenderen Problematik: der Frage nach einer
deuteronomistischen Redaktion des Buches Jeremia, in deren
Zusammenhang die Prosaredcn als ihr auffallendstes Erzeugnis
gehören.

Im I. einleitenden Hauptteil wird in einem ersten Unterabschnitt
(S. 1-55) ein Überblick über die Forschungsluge gegeben
. Die Stellungnahme der Forschung zum Problem der
Prosareden von der Mitte des 19. Jahrhundert« bis zur Gegenwart
wird charakterisiert, beurteilt und bestimmten methodischen
Tendenzen, die sich in den jeweiligen Lösungsvorsuchen
zum Ausdruck bringen, zugeordnet. Dabei ergibt
sieh, daß diejenigen Erklärungen, die die Prusarcden weitgehend
dem Propheten zuschreiben, die biographisch-psychologische
(Volz u.a.), zeitgeschichtliche (KiUfcldt u.a.) und
formgeschiehtlichc (Weiser u. a.) Erklärung, die deuterononiistische
Sprachgestalt nicht zureic hend zu erklären vermöge».
Doch auch die Vertreter der entgegengesetzten Ansicht, die
also die Reden von der jeremianischen Tradition abrücken,
verwickeln sich mit den von ihnen gebotenen Lösungswegen,
dem litcrarkritischen (Duhm) und dem quellenkritischen (Mo-
winckel, Rudolph), in Schwierigkeiten. Die angemessenste
Lösung stellt die (von Hyatt inaugurierte) redaktionsgeseliicht -
liehe Fragestellung dar, die das Problem der Prosaredcn in sich
integriert.