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Ausgabe:

1971

Spalte:

205-207

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kroeger, Matthias

Titel/Untertitel:

Rechtfertigung und Gesetz 1971

Rezensent:

Greschat, Martin

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205

Theologische Literaturzeitung 96. Jahrgang 1971 Nr. 3

206

Kroeger, Matthias: Rechtfertigung und Gesetz. Studien zur
Entwicklung der Rechtfertigungsichre beim jungen Luther.
Göttingen: Vandcnhoeck & Ruprecht [1968]. 246 S. gr. 8° =
Forschungen z. Kirchen- u. Dogmengeschichte, 20. Kart.
DM 28,-.

Es handelt sich bei dieser eindrücklichen Arbeit, die
u.a. durch die Schuld des Rezensenten leider erst jetzt zur
Anzeige kommt, um eine Göttinger Habilitationsschrift.
Sie entfaltet in einem ersten Teil (S.41 -163) Luthers
Rechtfertigungslehre in der Römerbriefvorlesung, um so-
dann auf dieser Grundlage in einem zweiten Teil (S. Hi l
bis 238) die „Entstehung der klassischen Rechtfertigungslehre
" bis zum Frühjahr 1518 zu verfolgen. Beiden Teilen
ist eine umfangreiche Einleitung (S.9 40) vorangestellt,
in der der Vf. grundsätzliche Erwägungen zur Erforschung
der frühen Theologie Luthers anstellt. Dem nach
einer kritischen Würdigung der Forschungsgeschichte
formulierten Arbeitsziel, die Texte der Frühzeit zunächst
unabhängig von der Alternative ,,reformatorisch"
,,nicht reformatorisch" aus sich selbst zu interpretieren
und dabei auch von dem Problemkreis „Turnierlebnis"
zu abstrahieren, kann man nur nachdrücklich zustimmen.
Das gleiche gilt für die im Anschluß daran erhobene methodische
Forderung, jene „eigentümliche Zwischengestalt"
(S.29) der frühen Theologie Luthers in ihrer verbalen wie
inhaltlichen Eigentümlichkeit ganz ernst zu nehmen, um
somit möglichst exakt zu begreifen, was Luther sagt und
„was er noch nicht nieint und sagt" (S.29).

Mit großer Klarheit und systematischer Kraft zeichnet
der Vf. danach die Umrisse von Luthers Rechtfertigungslehre
in der Vorlesung über den Römerbrief (S.41-85):
Gott recht geben durch das demütige Bekenntnis der
Sünde; dem Worte Gottes, das den Sünder verurteilt,
recht geben gegen sich selbst: das ist Rechtfertigung.
Der darin geforderte Glaube ist somit wesenhaft Demut
der die Gnade Gottes antwortet, ist iustitia Dei hier doch
bereits mit großer Selbstverständlichkeit als Geschenk
Gottes begriffen. Mit jener Eigenart des Glaubens aber ist
die Position Luthers in der Römerbriefvorlesung umrissen
: Glaube ist radikale Demut im Sinne der totalen
Selbstpreisgabc des Menschen - und darin ausgestreckt
auf das Geschenk der Gerechtigkeit Gottes, die ihm sola
gratin zuteil wird; Glaube ist von daher allerdings nie
seiner selbst gewiß, weil er seiner ureigensten Bestimmung
nach fortschreitend demütiger und niedriger werden muß.
„Diese unendlich fortschreitende, ungewisse, in keiner Gewißheit
befestigte Demut ist nun die Quelle des synergistischen
Scheins so vieler und wesentlicher Formulierungen
in der Frühzeit" (S.65). Um mehr als einen
„Schein" kann es sich freilich nach dem skizzierten
Glaubensbegriff nicht handeln; ebensosehr spricht Luthers
Vorstellung von der Imputation dagegen, wonach
dem bleibend sündigen Menschen seine Sünde von Gott
nicht angerechnet wird: eine Vorstellung, die Luther nicht
au-- dem Ockhamismus, sondern aus eigenem Augustin-
stadium gewonnen habe.

Mit dieser Augustinrczeption aber - und das ist die
zweite große Linie, die vom Vf. in Luthers Verständnis der
Rechtfertigung in der Hömerbriefvorlesung aufgewiesen
wifd (S.86-117) - tritt neben die „Gerechtigkeit aus
Glauben" eine „Gerechtigkeit aus Liebe": die Erfüllung
des göttlichen Gesetzes durch die Liebe aufgrund der eingegossenen
Gnade, also ein betont sanativer Zug in der
Rechtfertigung, das proficere des Menschen, alles das
kann deshalb zu diesem Zeitpunkt in Luthers Theologie
eine so große Rolle spielen, weil der Glaubens begriff diese
Dimension noch nicht hat. „Weil der Glaube als confessio
und humilitas, als reine Aufdeckung der Sünde verstanden
ist, deren bloße Non-imputatio Rechtfertigung bedeutet
, durum konnte und mußte in diesem Vakuum, sofern
es um die Vertreibung der Sünde geht - und mit dieser
hat das Gesetz fordernd zu tun -, der augustinische
Gedanke der Gerechtmachung, der dem Glaubensbegriff
noch völlig fehlt, eine so große Bedeutung bekommen
" (S. 105). Das bedeutet: das Verhältnis von
Rechtfertigung und Gesetz ist das entscheidende Problem
in der theologischen Entwicklung Luthers. Anders gewendet
: in Luthers früher Theologie, wie sie seine Römerbriefvorlesung
spiegelt, ist der entscheidende Schritt über
die mittelalterlich-scholastische Theologie hinaus getan;
nicht sie, wohl aber Augustin ist Luthers großes Gegenüber
.

In diesem Umkreis gehört letztlich auch Luthers Wortbegriff
mit der traditionellen Unterscheidung von spiritus
und littera sowie die darauf basierende Problematik der
Glaubensgewißheit (S. 118-163): die Ungewißheit dieses
Glaubens über sein Heil wurzelt konstitutiv in seinem
Verständnis als unendlich fortschreitende Demut -
gleichwohl aber „weiß" solcher Glaube um das Heil in der
Annahme des Gerichts. Auf diesem Hintergrund wird die
zentrale Bedeutung von Luthers Betonung des Handelns
Gottes sub contrario einsichtig: Gottes Wort lehrt, daß
nur da, nur in Niedrigkeit, Schmach und Tod die Gnade,
das Heil und die Rechtfertigung gegenwärtig sind. Darum
muß der Mensch diesen Gegensatz willig annehmen, muß
ihn bejahen, um zur Gnade und zum Heil für sich selbst
zu gelangen. „Das Wort kann die Gnade nicht zusagen, es
lehrt nur, wo sie zu finden ist, sub contrario" (S.133).

Mit diesem insgesamt überzeugenden Entwurf - der
hier selbstverständlich nur in Umrissen skizziert werden
konnte - ist nun aber die Basis gewonnen, von der aus das
Neue an Luthers Rechtfcrtigungslchre einsichtig werden
kann. Kritisch sei gegenüber diesem ersten Teil nur gefragt
, ob die vorgeführte scharfe systematische Linienführung
den Nuancenreichtum der Vorlesung nicht
manchmal etwas zu gewaltsam bändigt. Gibt es nicht über
jene klare Scheidung von genuin lutherscher „Gerechtigkeit
aus Glauben" und der von Augustin abhängigen „Gerechtigkeit
aus Liebe" hinaus vielfältige und höchst
komplexe Übergänge? Damit hängt in etwa die grundsätzlichere
Frage zusammen, ob der Verzicht der Arbeit
auf Luthers Aussagen vor der Römerbriefvorlesung diese
Tendenz zur Einlinigkeit nicht unterstreicht. Gerade
das sehr komplexe Verständnis der fides in den Diotata
würde das Bild m.E. stärker variieren.

Der zweite Teil untersucht nun den Wandel in Luthers
Verständnis von Glaube und Wort (S.164-203). Greifbar
wird er, so Kroeger, in der Hebräerbriefvorlesung, genauer:
in der 2. Schöbe zu Hebr 5,1. Hier wird und zwar im Zusammenhang
mit Luthers Reflexion über das Sa krament -
der Glaube zum erstenmal auf das Wort gegründet. „Die
Entdeckung des Wortes ist also die Entdeckung des Sakramentes
und Beichtamts gewesen, weil die Absolution
des Priesters das Sakrament der Buße ausmacht" (S. 174).
Eindringlich wird die zentrale Rolle dieser Schöbe in
Luthers Schriften der Jahreswende 1517/18 herausgestellt
, ebenso eindrücklich der unmittelbare Zusammenhang
dieses Neuen mit dem Ablaßstreit vorgeführt. Es
liegt ja auf der Hand, daß mit jener Relation von Glaube
und Wort nicht nur neue Akzente gesetzt werden, sondern
eine echte Neuorientierung stattfindet. Gleichwohl wird
mit Recht betont, daß darum nicht von einem Bruch
innerhalb der frühen Theologie Luthers die Rede sein
kann. Wieder stellt sich freilich die Frage, ob mit einer
derart betonten Heraushebung der Schöbe Luthers zu
Ucbr 5,1 die Entwicklung nicht allzu einlinig gesehen ist.
So überzeugend der Kontext aus Ablaßstreit und Bußsakrament
, dem Wort der Zusage und der Lösung der
Gewißheitsproblematik dargestellt ist: steht gegen jene
Zuspitzung der Entwicklung auf diesen einen Punkt nicht
die Tatsache, daß Luthers 95 Thesen gegen den Ablaß
gorade diese eindeutige Sprache nicht sprechen? Hier