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Ausgabe:

1970

Spalte:

139-141

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Hedinger, Ulrich

Titel/Untertitel:

Hoffnung zwischen Kreuz und Reich 1970

Rezensent:

Hempel, Johannes

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139

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2

140

fest in die Theologie zu integrieren wie den Begriff der Sünde.
Hier nun ist freilich der Punkt, an dem, gerade durch Wernsdörfers
klares Referat über Tillich samt Eifer für diesen, Grenzen und
Schwächen der Tillichschen Theologie offen zutage treten. Sowenig
das Prinzip bestritten werden sollte, durch neue Begriffe neues
Leben und neue Tragweiten in die Systematische Theologie zu
bringen, so zeigt doch schon die geistesgeschichtliche Analyse,
welch belasteter Begriff der Begriff der Entfremdung ist und
welche Mißverständnisse man mit ihm heraufbeschwören kann,
obwohl man besserem Verstehen dienen wollte. Es verhält sich mit
dem Begriff der Entfremdung wohl ähnlich wie mit dem seinerzeit
von Emil Brunner zur Globalkategorie erhobenen Begriff des Menschen
im „Widerspruch". Zu heterogene und disparate Dinge
werden unter ihm subsumiert, wo die eigentliche sachliche
Aufgabe die Unterscheidung und das Angehen der betreffenden
Dinge von ihren je eigenen und spezifischen Materien aus sein
müßte. Vor allem aber ist dies zu sagen: Wenn man doch meint,
und darin das Theologische sieht, die diversen (Negativ-)Phäno-
mene einheitlich charakterisieren zu sollen, so ist sehr fraglich, ob
der Sammelbegriff der Entfremdung wirklich auf das hin konvergiert
, was die Bibel mit Sünde meint (was durch terminologische
Annäherung wie durch den Begriff „Trennung von Gott", s. S. 254,
ja noch nicht ausgemacht ist), zumal die .natürliche' Erfahrung,
und wie selbstverständlich, das sein soll, was Entfremdung als
solche erkennen lasse (s. S. 237: eine „durch das Erleben eines
jeden Menschen leicht zu bestätigende Charakterisierung", vgl.
S. 253). Hier ist der Ort, an dem von Barth her das Hauptbedenken
zu erheben wäre. Und es könnte die Frage sein, ob nicht der der
eigentlich ,moderne' Mensch ist, der konsequent alle Negativerscheinungen
des menschlichen Lebens ganz kaltblütig wertfrei
und rein sachlich zu sehen unternimmt, fern davon, überall „Verzweiflung
" zu verspüren und Zerrissenheit zu beklagen. Wenn
Barth einmal Heidegger und Sartre gegenüber zum Ausdruck
bringt, daß ihr .Nichts' mit dem eigentlich Nichtigen der Sünde an
sich bzw. für natürliche Erkenntnis noch gar nichts zu tun habe
(KD m/3, S. 398 f., vgl. IV/1, S. 397), dann markiert er zugleich den
Ort, an dem Barthsche und Tillichsche Theologie am schärfsten in
Gegensatz geraten (ein Gegensatz, den wir freilich als notwendig
komplementären ansehen, da u. E. das Ganze biblischer Wahrheit
nie in einem theologischen System, sondern überindividuell in
Erscheinung tritt). Das große Verdienst der Arbeit von Werns-
dörfer wird nicht geschmälert, wenn wir für seinen letzten Teil,
der sehr umsichtig und aufgeschlossen auf die Kritik an Tillich
eingeht (hierbei „einen gewissen Hang des Tillichschen Denkens
zum Geschickhaften und Unausweichlichen" zugebend, S. 374), auf
folgende Sätze Karl Barths aufmerksam machen, die dieser kritisch
zu Julius Müllers berühmter Monographie über die Sünde schrieb:
„Es war nur eine Frage, die er scheinbar nicht einmal erwogen,
geschweige denn fruchtbar gemacht hat, die kritische Grundfrage:
ob man denn jenen dunklen Fleck überhaupt so direkt, als ein
Phänomen unter anderen wahrnehmen und feststellen, analysieren
und beurteilen kann? oder ob nicht die Erkenntnis auch dieses
Phänomens eine Glaubens frage und in diesem strikten Sinn
eine theologische Frage sein möchte? Sondern er nimmt an,
daß man das allgemein wissen kann: daß es das gibt, Sünde,
daß sie da ist, und er meint, daß man bei gewissenhafter und
umfassender Betrachtung und Überlegung auch das ohne weiteres
wissen könne, w a s sie ist" (KD III/3, S. 357).

Berlin Hans-Georg Fritzsche

Hedinger, Ulrich: Hoffnung zwischen Kreuz und Reich. Studien und
Meditationen über die christliche Hoffnung. Zürich: EVZ-Verlag
[1968]. XIX, 344 S. gr. 8° = Basler Studien zur historischen und
systematischen Theologie, hrsg. v. M. Geiger, 11. Lw. DM 28.-.
Die Frage nach dem Zukunftsbezug christlichen Glaubens ist in
unserem zu Ende gehenden Jahrzehnt mehrfach, mit jeweils theologischer
Leidenschaft und denkerischer Energie, den anstehenden
theologischen Hauptfragen zugeordnet worden. Die vorliegende
Studie von Ulrich Hedinger stellt sich als ein neues .Geschwisterkind
' (freilich .mit eigenem Gesicht') neben die bekannten, der
Artikulierung christlicher Eschatologie gewidmeten Arbeiten insbesondere
von J. Moltmann und G. Sauter1. H. schrieb und veröffentlichte
dieses Buch, weil er von diesen bisherigen Entwürfen
christlicher Eschatologie einerseits aufs tiefste angeregt, zugleich
aber mit ihrer theologischen Konturierung christlicher Hoffnung
unzufrieden ist.

Zur Charakterisierung der Arbeiten H.s seien die folgenden
Beobachtungen vermerkt:

a) H.s Buch lebt im Grunde von einer (einzigen) These, die
- im Urteil des Vf.s (und u. E. vollkommen zu Recht) - in der neueren
eschatologischen Debatte kaum berücksichtigt, für dieselbe

aber von größter Wichtigkeit ist; nämlich von der These: Zwischen
der Wirklichkeit des ,Kreuzes Christi' und der Wirklichkeit des
.Reiches Gottes' besteht .ein für allemal' eine (qualitative) Differenz
, die die positive Bezogenheit beider zwar keineswegs abbricht,
aber jegliche (faktisch oft vollzogene) Identifizierung verbietet.
Diese These trägt der Vf. in unterschiedlicher terminologischer Ausformung
immer wieder neu nach vorn. So spricht er von der „Differenz
zwischen Versöhnung und Erlösung" (99, 127 ff., u. a. m.) bzw.
„zwischen versöhnender und erlösender Gnade" (82, 99) i der Differenz
zwischen „spes qua und spes quae" (90 ff.), zwischen dem
„regnum Christi", wie es in Kreuz (und Auferstehung) zum Ausdruck
kommt, und dem „regnum Dei novissimum", wie es als
.Parusie des Erhöhten' verheißen ist (34 u. a.). - Im Ganzen der
Arbeit hat diese Hauptthese geradezu die Funktion des .archimedischen
Punktes', mittels dessen Vf. die überkommenen eschatologischen
Probleme zu überwinden unternimmt.

b) Im übrigen stellt sich H.s Arbeit dem Leser als .unaufhörliche
', immer neu ansetzende Konfrontation der Hauptthese mit
anderen eschatologischen Entwürfen vor allem der Gegenwart
(aber auch gelegentlich der Vergangenheit: G. W. Leibniz) dar. Mit
geradezu lexikalischer Breitensicht werden .alle' wesentlichen Stimmen
intra et extra muros ecclesiae (evangelische, katholische, jüdische
und philosophische) vor das Tribunal der Hauptthese gefordert
. Die Art der Konfrontation beeindruckt dabei durchgängig
ebenso durch Sachkenntnis und differenzierende Scharfsichtigkeit,
wie gedankliche Genauigkeit und sprachliche Formulierungskraft.
Wer die Zeit zur sorgsamen Lektüre des Buches hat, wird in seinem
eschatologischen .Panoptikum' eine Unmenge .lernen' können, auf
jeden Fall aber, wie fruchtbar es für geistige Prozesse sein kann,
einen festen Standpunkt zu haben. - Im 1. Hauptteil werden philosophische
Stimmen (Beckett, Camus, Jaspers, Heidegger, Marcel,
u. a.) zum Thema ,Hoffnung' befragt, keineswegs um (überzeugende
!) Allgemeinbildung zu dokumentieren, sondern weil, nach
dem Urteil des Vf.s, diese durch christliche Hoffnungs-Botschaft
mitbedingt sind, bzw. dieselbe konturieren helfen (29). - Im
2. Hauptteil werden wichtige theologische Entwürfe der Gegenwart
, reflektierend und meditierend, durchgesehen: Angelsächsische
Theologen (wie H. A. Guy, T. F. Glasson, J. A. T. Robinson)
kommen neben deutsche Existential-Thcologen (R. Bultmann,
E. Fuchs) als Repräsentanten .präsentischer Eschatologie' bzw.
eines exklusiven „Kreuzes-Puritanismus" zu stehen. Tillich, Cull-
mann, Kreck, Gogarten werden - mutatis mutandis - im Rahmen
eines Hoffnungsverständnisses, das das Eschaton (nur) als Vollendung
der Heilsgegenwart' kennt, kritisiert; K. Barth (dessen
Versöhnungslehre sich der Autor verpflichtet weiß, vgl. S. XVII)
zeigt sich, zusammen mit E. Thurneysen, als Lehrer einer letztlich
„noetischen Eschatologie"2. „Bei Barth ist die Hoffnung faktisch
nur um eine Handbreit von der Erfüllung getrennt. . . von der Enttäuschung
uneinnehmbar, vom Schmerz kaum erreichbar . . ." (201).
In besonders positiver Weise werden - verständlicherweise -
Moltmann und Sauter einbezogen. Ihnen wird das theologiegeschichtliche
Verdienst zugesprochen, von der allgemeinen
.christologischen Entspannung' der Eschatologie in der Theologie
der letzten Jahrzehnte unbeeinflußt geblieben zu sein, ja dieselbe
.positiv überholt' zu haben (XVI, 205). Anzuzweifeln bleibt freilich
für H. auch ihnen gegenüber, ob sie Recht taten, aus dem eschatologischen
regnum Dei novissimum die Erneuerung der Schöpfung
(redemptio creaturae) auszuklammern (63). Besonderer Erwähnung
bedarf noch der dem Vf. gelingende Brückenschlag zu jüdischer
Religiosität: M. Bubers .chassidische Erzählungen' werden
ihm zum Beleg .ontisch-kreatorischer' Erlösungserwartung (175 f.).
- Der 3. Hauptteil kreist um (Vollzugs-)Weisen der Hoffnung. In
der dem Vf. eigenen diagnostisch-klarsichtigen und zugleich gedanklich
sorgsam differenzierenden Art der Beurteilung werden
moderne, primär ethisch bestimmte Entwürfe christlicher Hoffnung
(pessimistische und optimistische) auf Recht und Grenze hin
durchsucht. Der Rückbezug auf Bonhoeffers Unterscheidung zwischen
.Letztem' und Vorletztem' öffnet H.s Hauptthese erstaunlich
weit sogar für .rechtende', ja .revoltierende' Formen der Hoffnung,
wobei freilich (mit Leon Bloy) jegliche Identifikation des ethisch
Erreichbaren (87) und des eschatologisch Verheißenen mit Recht
verweigert wird (220, 277).

c) Es ergeben sich zwei - miteinander zusammenhängende -
kritische Rückfragen an H.s Buch. - Die eine richtet sich auf das
den Überlegungen und Argumentationen H.s zugrunde liegende
Schriftverständnis. Es fällt auf, daß Vf. im Vollzug seiner Deduktionen
die Schrift .ungeschichtlich' verwendet, d. h. ihre einzelnen
Passagen, (vor allem die auf das Eschaton bezogenen) nimmt, wie
sie eben dastehen, ungeachtet dessen, was etwa durch historischkritische
Exegese für ihre Zeitbedingtheit bzw. Relativität seit
langem beigebracht ist. Eine „streng dogmatische Studie" (XIV),
wie die vorliegende, kann auf umfangreiche Exegetica sicher ver-

1 Jürgen Moltmann, „Theologie der Hoffnung", 1964; Gerhard Sauter, „Zukunft
und Verheißung", 1965.

« KD 111, S. 710 f.; IV/1. S. 815 ff.; vgl. Hedinger S. 176.