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Ausgabe:

1970

Spalte:

138-139

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Wernsdörfer, Thietmar

Titel/Untertitel:

Die entfremdete Welt 1970

Rezensent:

Fritzsche, Hans-Georg

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137

Theologische Literaturzeitung 95. Jahrgang 1970 Nr. 2

138

2. Schelling sieht die theologische Problematik der Philosophie
so klar, weil er ihre theologische Relevanz wie kein Philosoph vor
ihm begriffen hat. Aus demselben Grund, weshalb die Wirklichkeit
und Wahrheit der biblisch-christlichen Offenbarung von prinzipiell
anderem Charakter ist als die von dem neuzeitlichen Denken geprägte
Wirklichkeit und Wahrheit: die prinzipielle Verschiedenheit
geschichtlichen Handelns von wissenschaftlich-verifizierbaren
(mathematisierbaren) Verhaltensregeln -, ist die Vermittlung der
christlichen Botschaft in diese neuzeitliche Welt auf ein philosophisches
Denken angewiesen. Denn nur ein „Denken des Denkens"
kann jenes Anderartige aus den zwangsläufigen Verpackungen des
gewohnten und herrschenden Denkens zu seiner Eigenart befreien
und diejenigen „Denkmöglichkeiten" (S. 16) entwickeln, die es nicht
uns, sondern uns ihm angemessen machen. So verhängnisvoll die
traditionelle (sozusagen „naive") Verbindung der Theologie mit
der Philosophie war, die die Offenbarung auf ihre „statischen"
Elemente reduzierte, die „Geschehensaussagen der Offenbarung in
metaphysisch artikulierte Wesenaussagen" verkehrte, so hilflos ist
doch umgekehrt die Meinung, „das Andrängen der andersartigen
unmittelbar biblischen Kategorien und Verständnisweisen (könne)
nur historisch bewältigt werden" (S. 16).

Das Thema der „positiven Philosophie", die Schelling in seiner
Spätphilosophie entwirft, ist die Positivität Gottes, dessen geschichtliches
Handeln als Welt-Schöpfer und Welt-Erlöser. Weltschöpfung
(Anfang) und Welterlösung (Ende) haben ihren gemeinsamen
Bezugspunkt in dem Sachverhalt, dafj der Mensch insofern
Geschöpf Gottes ist, als er selbst frei und damit der Verkehrung
seiner Gottähnlichkeit in eine usurpierte Gottgleichheit fähig ist.
Diese Verkehrung - ihrem Wesen nach: die „Sünde", als geschichtliches
Ereignis: der „Fall" (der „Abfall" des Menschen von Gott) -
bildet als das auf Schöpfung und Erlösung zugleich verweisende
Urgeschehen der Geschichte überhaupt die „Achse der Spätphilosophie
" Sendlings (S. 148). Was Hemmerle nun als den leitenden
Gedanken Schellings herausstellt, das ist die unmittelbare Verflochtenheit
des Denkens selbst mit diesem Geschehen. Schelling
begreift die bisherige Denkweise der Philosophie (in der zugleich
die Grundhaltung der neuzeitlichen Wissenschaft gründet) als den
Ausdruck jener Verkehrung. Und seine theologische Alternative ist
darum nicht die von Denken und Glauben, sondern die von falschem
und wahrem, von einem vergangenen und einem von Grund
auf anderen, neuen Denken.

Dieses neue, von Schelling anvisierte Denken kennzeichnet
Hemmerle als „mediale Ursprünglichkeit": es ist „es selbst aus sich
selbst", aber in der Weise, daß es auf das, was es denkt, „auf sein
Anderes, schlechthin Vorgängiges" verweist (S. 295). Hemmerle
sieht hier noch innerhalb der überlieferten und unsere Wirklichkeit
prägenden Philosophie einen Ausbruch in der Richtung auf ein
„antwortendes" oder „dialogisches Denken". Den Ausdruck übernimmt
er von Franz Rosenzweig, dessen eminent aktuell gebliebene
Ansätze sein Buch (das aus einer Habilitationsschrift an der
Freiburger katholisch-theologischen Fakultät bei Bernhard Welte
hervorgegangen ist) auf dem von Heidegger geschaffenen inter-
pretatorisch-kritischen Niveau gegenüber der klassischen Metaphysik
erneuert.

Das wesentlichste Verdienst des Buches ist die konkrete, Schellings
eigene Denkbewegung aufhellende Interpretation des geschichtlichen
Gegensatzes und dynamischen Zusammenhangs zwischen
traditionell-metaphysischem und neuem Denken in Schellings
Sicht, insbesondere seines Gedankens der „Umkehr" von einem
selbstmächtigen oder „begreifenden" zu einem von sich selbst
„weggewandten" (S. 313), „bezeugenden" Denken und des Anstoßes
zu dieser Umkehr aus einem „praktischen Bedürfnis", d.h.
der Erfahrung der Unzulänglichkeit des theoretisch-kontemplativen
Gottesbegriffes im geschichtlich-gesellschaftlichen Handeln.
Mit Recht kennzeichnet er diese „praktische Differenzerfahrung"
als die „Not erfahrener Entfremdung des Gedachten in der Wirklichkeit
" (S. 147 f.).

Von gleich grofjer Bedeutung wie diese Freilcgung der neuartigen
Intention Schöllings ist aber an Hcmmerles Buch die damit
ständig verknüpfte Aufdeckung eines Antagonismus von Intentionen
. Schelling sieht das Befreiende, aber bei seiner Darlegung
verstrickt er sich in die Fesseln des Überkommenen. Die „positive
Philosophie" eröffnet ein Denken, das über das gegenständlich-beherrschende
, vorstellende Denken abendländischer Metaphysik hinausweist
und bewegt sich doch im Medium dieses metaphysischen
Denkens" (S. 120). Hcmmerle weist diesen Antagonismus auf, indem
er, auf jedem Punkt seiner Untersuchung, zeigt, wie Schellings
Vorstoß zu einem „personalen" („antwortenden") Denken am
Modell der Gegenständlichkeit, sein Vorstoß in ein Denken von
Zukünftigkeit als solcher am Maßstab von Gegenwärtigkeit orientiert
bleibt (Zukunft wird letztlich doch nur als das Noch-nicht-
Gcgenwärtige gedacht); und weiter, indem er - in tiefgründigen
Erläuterungen von Schellings „Potenzen"-Lehre - zeigt, wie die
„Ergriffenheit" des Denkens durch das ihm „Andere" von Schelling

wieder umgebogen wird zu einer Inthronisierung der Vernunft als
„Constituens" dieses Anderen. - Vielleicht liegt die wesentlichste
Aktualität von Hemmeries Buch in dem Anstoß, den es mit der
Einsicht in den Antagonismus Schellings der Frage nach den eigenen
metaphysischen Fesseln der heutigen Theologie selber gibt.

Tübingen Dieter Jähnig

Boehm, Rudolf: Hegel en de fenomenologie (Zusammenfassung:
Hegel und die Phänomenologie) (TPh 31, 1969 S. 471-489).

Cadier, Jean: Un maitre d'Auguste Comte: le doyen Daniel En-
contre (EThR 42, 1967 S. 53-59).

De Dijn, H.: Spinoza en het Expressie-probleem (TPh 31, 1969
S. 582).

Enslin, Horst: Der ontologische Gottesbeweis bei Anselm von
Canterbury und bei Karl Barth (NZsTh 11, 1969 S. 154-177).

De Greef, J.: Le lointain et le prochain (TPh 31, 1969 S. 490-518).

Jossua, Jean-Pierre: Actualite de Bayle (RSPhTh 51, 1967 S. 403-
439).

Krämer, Hans Joachim: Grundfragen der aristotelischen Theologie

(ThPh 44, 1969 S. 363-382).
Kwant, R. C.: De mens als oorsprong (TPh 31, 1969 S. 441-470).
Lachenmann, Hans: Zum Verständnis Teilhards (ZW 40, 1969

S. 609-618).

Scheltens, D.: De middeleeuwse illuminatieleer en het denken van

Heidegger (TPh 31, 1969 S. 418-440).
Schinzer, Reinhard: Das Religiöse Apriori in Rudolf Ottos Werk

(NZsTh 11, 1969 S. 189-207).
Shih, Ioseph: Secularization in early Chines thought (Gregorianum

50, 1969 S. 391-404).
Strolz, Walter: Der denkerische Weg Martin Heideggers. Zu seinem

80. Geburtstag am 26. September 1969 (StZ 184, 94. Jg. 1969

S. 172-185).

Viestad, Haftor J.: Soren Kierkegaards Papirer i ny og foreket ut-
gave (NTT 70, 1969 S. 177-183).

SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Wernsdörfer, Thietmar: Die entfremdete Welt. Eine Untersuchung
zur Theologie Paul Tillichs. Zürich-Stuttgart: Zwingli Verlag
(1968). 395 S. 8° = Studien zur Dogmengeschichte u. systematischen
Theologie, hrsg. von F. Blanke f, A. Rieh, O. Weber f,
J. Staedtke, E. Jüngel, 21. Kart. DM 32.60.

Dieses Buch ist in dreifacher Hinsicht außerordentlich wertvoll.
Es ist, in seiner zweiten Hälfte, eine gute Einführung in die
Theologie Tillichs; freilich nicht eine, die Tillichs Werk in allen
Themen und Problemen nachzeichnet, sondern eine, die von wenigen
Leitgedanken aus, wie dem des Korrelationsschemas sowie der
Dialektik von ,Entfremdung' und ,Neuem Sein', die Grundstrukturen
sichtbar macht, nicht ohne daß von hieraus in mitunter sehr
subtiler Weise auf eine Fülle von Einzelaspekten aufmerksam gemacht
wird. - Weiterhin ist das Buch dadurch bedeutsam, daß es
der Darstellung der Theologie Tillichs eine sehr ausführliche
geistesgeschichtliche Betrachtung über das Thema .Entfremdung'
in der neueren Philosophiegeschichte überhaupt voranstellt und
damit die geistigen Wurzeln und Voraussetzungen für das Werk
Tillichs sichtbar zu machen sich bemüht. Das mag dem Buch vielleicht
den Vorwurf eintragen, daß Tillichs Denken in ein vorgefaßtes
Schema eingetragen wird (zumal wenn über weite Partien
tatsächlich ein Schema zu dominieren scheint, nämlich eine Monomanie
des Themas „Geschichtlichkeit und Räumlichkeit in ihrer
polaren Zugehörigkeit", die wohl zuviel Probleme auf einmal bewältigen
soll — sosehr hierbei die Tendenz Wernsdörfers zu bejahen
ist, im Gegensatz zur sicherungs- und bindungslosen Existenzphilosophie
wieder das Moment der Einordnung und Raumgebundenheit
als Kategorien sui generis wie theologisch zu fordernde
Komponenten in Geltung zu bringen (s. S. 42 f., 55, 60 f.,
75 ff.). Auf jeden Fall ist die ausführliche Darlegung der Entfremdungsproblematik
besonders bei Hegel, Marx und der Existenzphilosophie
sowie bei Schelling ein Verdienst, zumal von
vornherein ein klares sachliches Problem als Leitfaden sichtbar
wird, nämlich, daß mit ,Entfremdung' zweierlei sehr Verschiedenes
gemeint sein kann, einerseits eine wesensnotwendige, gleichsam
ontologische Aussage über Mensch und Welt und damit etwas Unveränderliches
, mit dem man sich auszusöhnen, das man in seine
Existenz hincinzunchmen habe, ausgesagt sein kann (Hegel, Heidegger
), andererseits ,Entfremdung' ein Anklagebegriff und Wertbegriff
sein kann, der dann zum Ausdruck dezidierten Sichnicht-
abfindens mit der .bloßen' Wirklichkeit wird (so bei Marx und
wenn Tillich der Existenz die Essenz wie als ontologische Möglichkeit
eines Besseren entgegenstellt).

Über alle geistesgeschichtliche Analyse und historisches Referat
hinaus ist das Buch von Wernsdörfer schließlich dadurch außerordentlich
interessant, daß es sehr pointiert, und auch von Anfang
an, das Sachproblem stellt, den Begriff der Entfremdung ähnlich